Gottesdienst-Spielzeit

Gottesdienst-Spielzeit

Vielfältige Gottesdienstformate anbieten, die verschiedene Zielgruppen ansprechen? Manch eine Gemeinde wünscht sich dies. Der limitierende Faktor ist schnell einmal das knappe Zeitbudget derjenigen, die die Gottesdienste gestalten.

Katrin Kusmierz wurde auf das Beispiel einer Gemeinde aufmerksam, die dieses Dilemma zu lösen versucht.

Das Gottesdienstangebot neu strukturieren

Das berechtigte Anliegen, in regelmässigem Rhythmus, also jeden Sonntag morgen zur selben Zeit ein gewohntes Grundangebot aufrecht zu erhalten, an dem man, ohne viel zu überlegen, teilnehmen kann, hat zur Folge, dass wenig Spielraum bleibt für zusätzliche, neue Gottesdienstfeiern. Wie jedoch Innovativkraft entwickeln und gleichzeitig das Gewohnte und Bewährte nicht vernachlässigen?

Die Auferstehungskirchgemeinde Hamburg-Lohbrügge durchbricht gängige Muster und versucht, das Gottesdienstangebot gänzlich neu zu strukturieren. Dies analog zu einem Schauspielhaus, das gleichzeitig Theater, Oper und Ballett im Programm führt. Pro «Spielzeit» (ca. drei Monate) werden vier verschiedene Gottesdienste angeboten. Derzeit ein Gospel-Gottesdienst («Amazing Grace»), ein traditioneller Gottesdienst mit Musik von Johann Sebastian Bach («Der fünfte Evangelist?»), «Bibel und Bier: Tasting» und ein Gottesdienst mit dem Titel «Künstlerische Freiheit», in dem die Teilnehmenden sich künstlerisch-kreativ mit einem Thema auseinandersetzen und in dem Laien predigen. Jeder Gottesdienst wird drei- bis viermal wiederholt, die Daten werden im Voraus auf einem Flyer und im Internet kommuniziert. Wie im Theater schauen die Gottesdienstbesucher:innen, wann welcher Gottesdienst stattfindet und wählen das Datum, an dem sie teilnehmen können. Ausschlaggebend für diesen Versuch war – so wird es im Gottesdienstkonzept geschildert – die Feststellung, dass immer weniger Menschen jeden Sonntag an einem Gottesdienst teilnehmen. «Tatsächlich besuchen immer mehr … Menschen immer mal wieder einen Gottesdienst. Das versuchen wir mit unserem neuen Konzept aufzugreifen.» Und weiter: «Unsere Hoffnung ist, dass wir dadurch insgesamt mehr Menschen einen guten Grund (einen Anlass) zu einem Gottesdienstbesuch schenken.» Sich selbst gönnen sie mit gutem Grund mehr Zeit für die Vorbereitung.

Verändertes Teilnahmeverhalten

Das Angebot versucht also, auf ein verändertes Teilnahmeverhalten zu reagieren: Die Möglichkeit des regelmässigen Gottesdienstbesuches («jeden Sonntag, zur selben Zeit») nehmen nur wenige in Anspruch. Gottesdienstfeiernde benötigen zunehmend einen Anreiz, oder Anlass, um tatsächlich den Weg in die Kirche zu finden. Dazu reicht das «Gewohnte», «Wiederholbare» nur für einen Teil der potenziellen Gemeinde aus, selbst für jene, die durchaus gerne in den Gottesdienst gehen würden, aber in einem durchstrukturierten Alltag kaum Raum dafür finden.

Quantität und Qualität

Schon länger ist in der Liturgik von einer «Eventisierung» oder «Kasualisierung» von Gottesdiensten die Rede. Jeder Gottesdienst muss etwas Besonderes «bieten». Dies kann durchaus problematisiert werden, allein schon aus praktischen Gründen, da jeder besondere Gottesdienst mit einem Mehraufwand verbunden ist, der nur bedingt leistbar ist. Mit der Eventisierung steigt auch der Anspruchsgrad an Wortarbeiter:innen und Musiker:innen, an Technik und Raumgestaltung.

Auch die hohe Kadenz an immer wieder neu gestalteten Gottesdiensten im «normalen» Wochenrhythmus fordert jedoch ihren Tribut: sie zwingt die Predigenden – sodenn sie nicht in einem grossen Teampfarramt arbeiten – zu schneller Textproduktion und erschwert eine sorgfältige vorausschauende Planung gemeinsam mit den Musizierenden. Das geschilderte Modell von «Gottesdienst-Spielzeiten» macht es notwendig, langfristig zu planen. Die mehrmalige Wiederholung desselben Gottesdienstes bietet zumindest die Möglichkeit, an Liturgie und Predigt weiter zu feilen und sie zu verbessern. Die Sprechsituation vor «Publikum» gibt den Predigenden unmittelbar Rückmeldung. Im Sprechen erst erweist sich die Wortwahl als adäquat, die Satzlänge als sprechbar. Auch die Perfomance kann durch die wiederholte Aufführung reifen.

Vielfalt und Regelmässigkeit

Die Selbstevaluation durch den Pastor der Gemeinde Hamburg-Lohbrügge nach der ersten Spielzeit ergab, dass tatsächlich etwas mehr und andere Menschen kommen. Die Gemeinde wurde damit ein Stück vielfältiger, zumindest in der Anfangszeit, in der auch die Neugier auf das neue Konzept eine Rolle gespielt haben dürfte. Die präsente Gemeinde wird ergänzt durch eine digitale Gemeinde, denn die verschiedenen Gottesdienstangebote werden mindestens einmal live gestreamt.

Das Modell verbindet den Wunsch nach vielfältigen Gottesdiensten mit dem Anliegen der Regelmässigkeit bzw. mit dem Anliegen, den gottesdienstlichen Wochenrhythmus beizubehalten und zu pflegen. Durch die mehrfache Wiederholung des gleichen Gottesdienstes schert die Gemeinde allerdings aus dem sonst für die Nordkirche weitestgehend üblichen Gebrauch der Perikopenordnung aus. Die Gottesdienste sind an einem Thema orientiert. Neben den Gottesdiensten der aktuellen «Spielzeit» finden auch für sich stehende Gottesdienste statt – beispielsweise an hohen Feiertagen.

Erprobungsspielraum

Was ändert sich mit diesem Konzept? Die vertraute Regelmässigkeit des einen Gottesdienstes am Sonntagmorgen, zur selben Zeit, in der vertrauen Form, fällt weg. Wie wirkt sich dies auf das Bild und das Selbstverständnis von Kirche aus? «Jede Woche anders» bedingt auch, dass ich mich als Teilnehmende aktiv informiere und Termine auswähle. De facto wird dies wohl zumindest dem Teilnahmeverhalten eines Teils der Gottesdienstfeiernden auch heute schon entsprechen. Eventuell wird jedoch das Gottesdienstangebot von aussen betrachtet schwieriger lesbar. Und kommen auch noch zur dritten Wiederholung genügend Mitfeiernde?

Das Modell passt sicherlich nicht zu jeder Gemeinde, wohl am ehesten zu einer in sich pluralen Gemeinde mit einer gewissen Grösse und Anzahl an Mitarbeitenden bzw. Freiwilligen. Wird sich der Anteil beteiligter Freiwilliger am Gottesdienst erhöhen?  Und welche Rolle kommt der Pfarrperson zu? Von den Mitarbeitenden verlangt es auf jeden Fall eine grosse liturgisch-stilistische Mehrsprachigkeit.

Ungewohnt und neu ist sicherlich die Praxis, den gleichen Gottesdienst in der gleichen Gemeinde mehrmals zu feiern. Könnten Pfarrpersonen sich von dem internalisierten Anspruch lösen, jedes Mal einen neuen, in gewisser Weise einzigartigen und einmaligen Gottesdienst zu gestalten, der für diesen Moment entworfen wird und in diesem Moment erst entsteht? Besteht diesbezüglich ein grundsätzlicher Unterschied zwischen einem Gottesdienst und einem Theaterstück oder gerade nicht?

Das Konzept wagt einen ungewöhnlichen Versuch, der interessante Fragen provoziert. Wie es sich bewähren wird? Time will tell.  

Dr. Katrin Kusmierz ist Dozentin und Wiss. Geschäftsführerin des Kompetenzzentrum Liturgik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern.

2 thoughts on “Gottesdienst-Spielzeit

  1. Das ist tatsächlich ein anregendes Modell! Die Befürchtung, den Gottesdienst dadurch zu einem Event, zu einer Show verkommen zu lassen, liegt zwar nahe. Allerdings scheinen mir die Vorzüge zu überwiegen: Die sorgfältige Vorbereitung und Gestaltung im Team – möglichst von Haupt- und Ehrenamtlichen –, eine einheitliche liturgische und ästhetische Formsprache, eine bestimmte, konturierte Gemeinde («Zielpublikum»), ein liturgisch-musikalisch-räumliches Gesamtkunstwerk, das Freude macht, die Möglichkeit des Feedbacks und der Verbesserung innerhalb der «Spielzeit». Statt den jeweiligen Gottesdienst in nur einer Kirche zu feiern, könnte er in einer Stadt oder Region auf Tour gehen. Regionalisierung scheint mir für dieses Modell ohnehin notwendig, um die Aufwand bewältigen zu können.

  2. Vielen Dank für die Anregung, dieses Modell auch einmal auf regionaler Basis zu durchdenken! Sozusagen verschiedene Gottesdienstteams «on tour»…

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