Fürbitten: der verlängerte Arm der Predigt, der Ort, an dem theologische Inkonsequenz nicht bestraft wird, Trainingsparcours für Hobbypoeten. Die Fürbitten scheinen in der Krise zu sein. Wie wirken sich der Krieg in der Ukraine und die gegenwärtigen Friedensgebete auf unser Gebetsverständnis aus?
André Stephany
Sonntag für Sonntag wird für alle Armen, alle Kranken und sowieso alle anderen Menschen gebetet und dann konkret natürlich auch noch für alle in unserer Gemeinde, die es nötig haben. Auch wenn die Predigt eben verkündete, dass Gott nicht eine vom Himmel herabgreifende Hand sei, die ins Weltgeschehen eingreift, so wird in den sich anschliessenden Fürbitten dann aber doch für Essen für alle Hungrigen und Rettung für alle in Not gebetet.
Jetzt ist plötzlich alles anders! Mit dem Krieg in der Ukraine ist plötzlich (wieder) ein ganz konkretes Gebetsanliegen gegeben: Frieden für die Ukraine. Der Sinn des Gebets wird momentan wiederentdeckt. Unzählige Gemeinden rufen auf zu Friedensgebeten, in Gemeinschaft oder je für sich zuhause, im Geiste verbunden. Das Gebet hat wieder die Chance, nicht mehr in Worte gegossene Un-konkretheit, sondern relevant zu sein, indem es fokussiert auf einen geteilten Wunsch für ein konkretes Volk: Frieden für die Ukraine[1]. Die Auswirkungen des Unfriedens sind spürbar und auch hier haben Menschen Angst. Das Gebet ist für einige wieder ein Ort geworden, wo diese Angst einen Platz hat. Dabei ist das Erbetene konkret genug und doch abstrakt. Frieden ist gross und unbegreiflich, aber doch mit konkreten Folgen für den einzelnen Menschen. Im Gebet um Frieden bitten wir nicht für ganz detaillierte Ereignisse, die – unserer Meinung nach – zum Frieden führen, sondern die Bewegung ist mehr, Gott die Sache anzuvertrauen; das Anliegen ohne detaillierten Fahrplan auf den Herrn zu werfen (ganz nach Mendelssohns Elias). Das Fürbittgebet hat wieder das Potenzial einzufordern, was es verloren hat: das mystische Element; Gott nicht den Wunschzettel für alle diktieren, sondern uns im Vertrauen mit dem, was uns als Individuen oder als Kollektiv konkret bewegt, in die Präsenz Gottes zu stellen und darauf zu vertrauen, dass Gott für, mit und durch uns diese Welt nicht fallen lässt, sondern Herzen bewegt und unsere Sorgen, Freuden und Anliegen kennt.
Soweit die Theorie in meinen Gedanken. Wie sieht das in der Praxis aus? An dieser Stelle ein kurzer Blick auf zwei verschiedene evangelische Liturgien von Friedensgebeten für die Ukraine.[2] Ich vergleiche einen Vorschlag der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD)[3] und eine Liturgie aus einer Gemeinde im Berner Oberland[4].
Im liturgischen Ablauf sind beide Feiern ähnlich mit Eingangsgebet, Gesang, Lesung und Fürbitte/Friedensgebet. Die EKD-Liturgie hat einen Psalm und einen Einschub mit einer geführten Stille, die Oberländische Liturgie hat dafür Raum für ein Kerzenritual. Beide verwenden an verschiedenen Stellen das Kyrie mit Ursprung aus der Ukraine (EG 178.9/RG 195) und schliessen mit einem Segen.
Interessant ist ein Vergleich der Gebete und ihre Formulierungen. Das Eingangsgebet der EKD wendet sich an «Gott», klagt über die gegenwärtige Situation und fragt dann «Wer sieht uns mit unserer Hilflosigkeit und Angst?» Wut wird bekannt und eine Reihe von Fragen gestellt. Dann die erste Bitte «Sieh du die Not. Sieh unsere Angst», gefolgt von einem sich in den Schutz Gottes Stellen.
Zwar steht am Anfang des Gebets die Anrede «Gott», doch wirkt alles Folgende bis zur ersten Bitte als ein Reden zur Gemeinde, das gemeinsame Versichern, dass es uns allen gleich geht: eine ins Gebet gezogene Begrüssung. «Wer sieht uns […]?» Ist das die Frage an Gott oder eine Frage in den Raum? Erst mit der Bitte an Gott, dass Gott uns sehen soll, wird die Adressat:in klar.
Ganz anders das gemeinsam gesprochenen Eingangsgebet im Oberland. Es ist kurz, aber hat eine klare Adressatin. «Wir verweilen vor Dir Gott.» Es wird im ersten Satz klar, in wessen Gegenwart sich die Gemeinde stellt. Es gibt einen Satz zum Krieg und dann ein sich Anbefehlen in den Blick, die Gegenwart und die Fürsorge Gottes. Viel stärker ist hier das mystische Element.
Das Fürbittgebet der EKD mit Kyriegesang eröffnet und ruft die Gemeinde auf «für jede einzelne» der Menschen in der Ukraine zu beten und fügt gleich an, was das Gebet ihnen bringen soll, nämlich, «dass ihnen Leben und Gesundheit erhalten bleiben […]». Es geht weiter mit einer Bitte «für alle, die jetzt kämpfen[…]» (Fettdruck AS). Es folgt eine Liste der Dinge, die sie brauchen. So gehen die von den Kyrierufen gerahmten Absätze weiter für die «Verwundeten auf beiden Seiten», für die Toten (da hätte Luther seine Einwände), «für alle, die um sie trauern» (Fettdruck AS), für die Politiker:innen und was sie tun sollen gibt es gleich drei Absätze, und zuletzt für die Flüchtlinge «und für alle, die sich jetzt engagieren […]».
Anders macht es das Gemeindegebet aus dem Oberland. Es wendet sich ohne Umschweife an Gott. «Du hast Gedanken des Friedens (Aufnahme der Lesung, AS). Aber jetzt ist in der Ukraine Krieg.» Nach dieser Einleitung formuliert das Gebet seine Bitten. «Pflanz deine Gedanken des Friendens ein in die Köpfe der Machthaber. In die Herzen […].» Und dann geht es über in eine Reihe von «Steh denen bei, die»-Bitten. Es legt Gott konkrete Menschen nahe, formuliert jedoch nicht, was Gott denn jetzt alles tun muss mit ihnen und für sie. Es ist ein Anbefehlen der Fürsorge Gottes. Es schliesst mit einem Ruf nach «Hoffnung und Zukunft» und dem Wunsch «Damit Friede sich ausbreitet.» Diesem Gebet gelingt es, in der Gegenwart Gottes konkreter Menschen zu gedenken, ohne konkrete Anweisungen an Gott zu formulieren. Es lässt Raum für Gott und Betende, diese Menschen im Geist mitzunehmen und zu bewegen, was ein guter Beistand Gottes und von uns sein könnte. Es lässt Raum für das Wirken des Geistes in und durch das Gebet, in und durch uns.
Friedensgebete: Defibrillatoren für das Fürbittgebet?
Nicht zwingend, aber es gibt die Möglichkeit. Der Liturgie aus dem Berner Oberland gelingt es, für echte Menschen zu beten, ohne es durch das Gebet «für alle» wieder unkonkret werden zu lassen. Dieser Liturgie gelingt es, den Sorgen der Menschen Raum zu lassen und sie in die Gegenwart Gottes zu stellen, ohne dabei die Adressat:in aus dem Blick zu verlieren, ohne zu viele Worte und ohne konkrete To-Do-Liste. Das EKD-Gebet fischt durch zu viel Detail im Unkonkreten und wechselt in der Ansprache regelmässig zwischen Gott und Gemeinde. Friedensgebete: eine Chance, das Fürbittgebet wieder bedeutungsvoll werden zu lassen, aber eine, die bewusst ergriffen werden muss.
[1] Nicht, dass es davor nicht auch viel Konkretes gegeben hätte, für das man hätte beten können, aber etwas scheint bei dieser Krise anders. Wenn die Solidarität auch die einzige richtige Reaktion ist, halte ich es für nicht unproblematisch, dass die syrischen Flüchtlinge 2015 nicht auf ähnliche Solidarität trafen und ein griechischer Minister das kürzlich damit begründet, dass die Ukrainischen Flüchtlinge eben «echte» Flüchtlinge seien (https://www.tagesschau.de/ausland/europa/griechenland-migration-103.html [1.04.22]).
[2] Zur genaueren Gestaltung: Wie sind diese Gebetsliturgien gestaltet? Welche Texte nutzen sie und wie sind die Fürbitten formuliert. EKD: Der Liturgievorschlag der EKD beginnt mit einem Votum (Gnadenszuspruch aus u.a. Röm 1,7b), Eingangsgebet, Psalm 121 mit einer Person, die den ersten Vers spricht und alle gemeinsam den restlichen Psalm, Lied (Gib Frieden, Herr, gib Frieden, Text von Jürgen Henkys), Stille mit Impulsen, Lesung aus Matthäus 5,1-10 (Seligpreisungen), Fürbittgebet mit Kyrie (aus der Ukraine, EG 178.9/RG 195), Vaterunser, eine Strophe Segenslied (Verleih uns Frieden gnädiglich) und Aaronitischer Segen.
Liturgie aus dem Berner Oberland: Diese wird wöchentlich gefeiert und von Zeit zu Zeit angepasst und verändert. Die vorliegende Version eröffnet mit dem Adjutorium, fährt fort mit einem Eingangsgebet, bei dem eine Person die erste Zeile spricht und alle ab der zweiten Zeile einstimmen. Dann gibt es die Möglichkeit, eine Kerze anzuzünden gefolgt von einem Kyrie-Gesang (aus der Ukraine, EG 178.9/RG 195). Bei der Lesung wird wie beim Eingangsgebet die erste Zeile von jemandem gesprochen und alle stimmen mit ein; hier ist es Jer 29,11 zu den Gedanken des Friedens. Der Lesung folgt aus Taizé Da pacem cordium und dann ein gemeinsam gesprochenes Friendengsgebet. Es folgt ein Musikstück und ein von allen gesprochener Segen.
[3] Homepage der EKD: https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/Friedensgebet_zur_Situation_in_der_Ukraine_Stand%2008032022.pdf [1.04.22].
[4] Freundlicherweise zur Analyse zur Verfügung gestellt.
André Stephany arbeitet als Doktorand und Assistent am Lehrstuhl für Praktische Theologie in Bern. In seiner Dissertation beschäftigt er sich mit der ehrenamtlichen Verkündiung in der Schweiz.
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