Im Bild, Nr. 2
Pablo Picasso malte 1952 für eine Kapelle in Südfrankreich die beiden Bilder «Der Frieden» und «Der Krieg» sowie später noch ein drittes. Das dreiteilige Werk ist ein Appell, eine Art «Friedensgebet».
Johannes Stückelberger
Abb. 2 : Pablo Picasso, Der Frieden, 1952, Kapelle im Musée National Picasso La Guerre et La Paix in Vallauris (Bildnachweis: Gertje R. Utley: Picasso, The Communist Years, New Haven/London 2000).
Abb. 3 : Pablo Picasso, Der Krieg, 1952, Kapelle im Musée National Picasso La Guerre et La Paix in Vallauris (Bildnachweis: Gertje R. Utley: Picasso, The Communist Years, New Haven/London 2000).
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Seit zwei Wochen tobt der Krieg in der Ukraine. Soldaten fallen. Zivilisten sterben. Angst geht um. Über zwei Millionen Menschen haben das Land verlassen. Auch Bürgerinnen und Bürger Russlands fliehen. Europa und die Welt sind bestürzt. Viele helfen. Die Kirchen rufen zu Friedengebeten auf. Ich suche nach Bildern, als Beitrag zu einer Friedensliturgie.
Ich werde fündig bei Pablo Picasso. Wiederholt hat er sich künstlerisch zum politischen Geschehen seiner Zeit geäussert. Am bekanntesten ist sein Bild «Guernica», entstanden 1937 als Protest gegen die Bombardierung der baskischen Stadt während des Spanischen Bürgerkriegs. Es erlangte Weltberühmtheit, da es im gleichen Jahr an der Weltausstellung in Paris zu sehen war und anschliessend auf Weltreise ging. Andere politische Bilder des Künstlers sind «Das Leichenhaus» oder «Massaker in Korea». Und allbekannt wurden seine Friedenstauben.
Unter dem Eindruck der in der Nachkriegszeit zunehmenden Spannungen zwischen Ost und West malte Picasso 1952 zwei grosse (je 5 x 10 m) Gemälde «Der Krieg» und «Der Frieden». Bestimmt waren sie für die nicht mehr benutzte Kapelle im Schloss in Vallauris, jenem Ort in Südfrankreich, in dem der Künstler mit seiner Familie von 1948 bis 1955 lebte. Die Bilder sind auf dünne Hartfaserplatten gemalt, was dem Künstler erlaubte, sie in der Kapelle auf die Weise anzubringen, dass sie zusammen ein Tonnengewölbe bilden. Die Stirnseite des Raumes, dem Eingang gegenüber, ist mit einem ungefähr halbkreisförmigen Bild (gemalt 1957) geschlossen. In die Kapelle eingebaut wurden die drei Bilder 1959. Der Raum ist fensterlos und entsprechend dunkel. Picasso wünschte sich, dass die Besucherinnen und Besucher mit einer Kerze in der Hand wie in einer prähistorischen Grotte die Ausmalung Stück für Stück, gleichsam rituell, erschliessen.
Ich könnte nun als Kunsthistoriker in eine Analyse der Bilder eintreten, die Bildmotive benennen, Komposition, Stil, Malweise diskutieren, anhand der 300 Vorzeichnungen aufzeigen, wie sich der Künstler an die Thematik herangetastet hat, das Werk mit anderen politischen Arbeiten Picassos vergleichen und die genauen Entstehungshintergründe erforschen. Hinweisen könnte ich auch auf die Chapelle du Rosaire in Vence, die Henri Matisse 1951 ausmalte, auf Marc Chagall, der ab 1949 in der Nähe von Nizza lebte und dort unter anderem an den Bildern seiner «Biblischen Botschaft» arbeitete, sowie auf weitere moderne Künstler, die in der Nachkriegszeit Werke für Kirchen schufen.
Ich wähle stattdessen einen anderen Zugang: ich betrachte Picassos Arbeit als Gebet, als Friedensgebet. Darf ich das, werden Sie vielleicht fragen? Ja, ich darf. Picasso hat die Bilder in die Freiheit entlassen, was wir damit machen, steht in unserer Verantwortung. Irrelevant ist auch, ob Picasso gläubig war und selbst gebetet hat. Damit, dass er für die dauerhafte Präsentation der drei Bilder eine Kapelle wählte, stellte er sie zumindest in den Kontext einer religiösen Tradition, auch wenn die Kapelle schon zu seiner Zeit nicht mehr kultisch genutzt wurde.
Vorausschicken möchte ich, liebe Leserin, lieber Leser, eine kleine Betanleitung. Ich bitte Sie, nach jeder Zeile innezuhalten, auf das jeweilige Bild zu schauen, um dort zu sehen, worauf sich meine Worte beziehen. Mein Text ist nicht das Gebet, das Gebet ist vielmehr Picassos dreiteiliges Werk. Ich biete lediglich eine Lesehilfe. So verstehe ich generell meine Aufgabe als Kunsthistoriker. Bilder müssten nicht gemalt werden, wenn Sie gänzlich in Worte übersetzt werden könnten. Sie wollen gesehen werden. Worte können dieses Sehen unterstützen, jedoch nicht ersetzen. Ein praktischer Hinweis: Damit Sie nicht hin und her scrollen müssen, ziehen Sie die drei Bilder auf Ihren Desktop (rechte Maustaste, Graphik speichern unter). So können Sie Text und Bild nebeneinanderstellen. Der erste Abschnitt ist zu Bild 2, der zweite zu Bild 3, der dritte zu Bild 1.
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Picassos Friedensgebet
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Du Gott!
Die Welt ist deine Schöpfung.
Du hast sie als Paradies erschaffen.
Und sie ist bis heute zu einem grossen Teil noch immer ein Paradies.
Ein Ort, wo Menschen friedlich zusammenleben.
Ein Ort des Lichts, der Leichtigkeit, der Farbigkeit, der Reinheit.
Ein Ort der Fruchtbarkeit.
Wo Menschen die Früchte des Baumes und die Trauben des Weinstocks geniessen.
Wo das Kind an der Brust trinkt, die Mutter liest, der Vater kocht.
Wo geforscht und nachgedacht wird.
Im irdischen Paradies gibt es viel Raum für die Künste, das Schöne, die Freude, das Ideale.
Pegasus, das geflügelte Dichterross, pflügt Wasser und Himmel.
Auf dass die Menschen auch das Brot der Poesie essen dürfen.
Auf einer Muschel sitzt der Flötenspieler.
Zwei Frauen tanzen zu seiner Musik, graziös, ekstatisch.
Eine der beiden hält auf ihrem Finger die Dauer (Sanduhr) und den Moment (Junge) im Gleichgewicht.
Konzentriert balanciert das Kind auf einem Bein.
Und hält zusätzlich mit seinem Kopf, auf dem eine Eule sitzt, ein Vogelaquarium und eine Fischvoliere in Balance.
Ein wahrer Artist.
Die Welt steht Kopf und ist doch im Gleichgewicht.
Ein anderer Junge, Trauben schnabulierend, gibt übermütig dem Mobile einen Schubs.
Es soll sich bewegen.
Und über allem ruht das strahlende, farbige, sich freuende Auge der Sonne.
Das ist das Paradies.
Das ist der Frieden.
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Du Gott!
Im Paradies, wie Du es erschaffen hast,
Haben die Menschen vom Baum der Erkenntnis gegessen.
Das hat sie zur Eigenverantwortung befreit.
Doch seither hat das Gute, Schöne und Helle im Bösen, Hässlichen und Dunkeln ein Gegenüber.
Es gibt nicht nur den Frieden, es gibt auch den Krieg.
Seine Farben sind giftig, disharmonisch, brutal.
Er ist chaotisch, wild, unberechenbar.
Er will den Tod und bringt den Tod.
Ein Dreigespann zieht sein Streitgefährt, einen klapprigen Leichenwagen.
Der Wagenführer gebärdet sich angriffig, zynisch, teuflisch.
Auf seinem Rücken trägt er eine Krätze mit Totenschädeln.
Er droht mit einem blutigen Schwert.
Mit der anderen Hand schüttet er die unheilvolle Büchse der Pandora aus.
Aus ihr entweicht das Übel und verbreitet sich über die Welt.
Überschattet von einer dunklen, gefrässigen Wolke.
Der Krieg locht Menschen ein, fährt über sie hinweg.
Er verbrennt die Zeugnisse von Wissenschaft, Kunst und Kultur.
Er tritt die Wahrheit mit Füssen.
Er fährt auf verbrannter Erde.
Und wird begleitet von einem Heer dunkler Krieger,
die morden, morden, morden.
Doch was ist los?
Der Angriff stockt.
Die Pferde weichen zurück.
Die Krieger senken ihre Waffen.
Die Frontlinie ist erreicht. Der Feind steht gegenüber.
Ein Mensch. Kräftig, fest, entschlossen.
Nackt. Ohne Rüstung.
Nicht das, was man sich unter einer gegnerischen Armee vorstellt.
In der Rechten hält er einen Speer.
Nicht auf den Feind gerichtet, sondern senkrecht.
Auf Aggression antwortet der Angegriffene nicht mit Gegengewalt.
Er vermeidet die Eskalation.
Gleichwohl markiert er Stärke.
Die Stärke dessen, woran er glaubt.
An seinem Speer hängt die Waage der Gerechtigkeit.
Auf dem Schild wehrt die Friedenstaube die Drohungen des Angreifers ab.
Und unter der Zeichnung der Taube erscheint das Gesicht einer Frau.
Der friedliebende «Krieger» kämpft mit den Waffen der Gerechtigkeit, des Friedens und der Menschlichkeit.
Das ist der Krieg.
Du Gott!
Ist dies das Leben?
Ein Tunnel, in dem uns dauerhaft Krieg und Frieden begleiten?
In dem es neben dem Guten immer auch das Böse gibt?
Mal mehr von diesem, mal mehr von jenem?
Glück gehabt oder Pech, je nachdem, auf welcher Seite des Tunnels man steht?
Nein!
Der Tunnel hat ein Ende.
Eine helle Landschaft tut sich auf.
Der Ausgang ist offen, die Mauer durchbrochen.
Dort stehen vier Menschen.
Aus Süden, Osten, Westen, Norden.
Sie geben sich die Hände, als würden sie einen Eid ablegen.
Sie halten ein Emblem hoch. Ein Medaillon. Eine Sonnenscheibe.
Darauf die Friedenstaube.
Das Zeichen ihrer Hoffnung, ihres Glaubens, ihrer Verantwortung.
Sie appellieren. Beten sie?
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Du Gott!
Ich bin Realist. Der Krieg wird uns im Leben weiter begleiten.
Aber er möge unser Leben nicht allein bestimmen.
Du hast uns den Frieden geschenkt.
Ich glaube daran, dass der Frieden stärker ist als der Krieg.
Doch er ist es nur dann, wenn wir für ihn kämpfen.
Mit den Waffen des Friedens.
Gib der Menschheit den Willen und die Kraft,
Das Zeichen des Friedens dauerhaft hochzuhalten.
Amen
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Johannes Stückelberger ist Dozent für Religions- und Kirchenästhetik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern und Titularprofessor für Neuere Kunstgeschichte an der Universität Basel
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