Der „promenadologische Einzug“

Das reformierte Ausgleichsventil zu liturgisch (eigentlich) Schönem

Liturgische Gesten und Bewegungen gehören ja nicht zum Lieblings- und Kernrepertoire reformierter Pfarrpersonen. Es lohnt sich aber über die theologischen Aussagen hinter so mancher vermeintlich nebensächlichen Entscheidung nachzudenken. So bei der Frage, wo die Pfarrperson/Liturg:in bei Beginn des Eingangsspiel ist und wie sie da hinkommt, wo sie gerne sein möchte. Ein paar Gedanken zum Einzug, halben Prozessionen und – hoffentlich – ein Mutmacher für ganze Sachen.

André Stephany

Ist es nicht Konfirmation oder Goldene Hochzeit mit einer ganzen Horde von Jubilarinnen und Jubilaren, dann gebe es bei Einsatz der Orgel nur einen Ort, wo die Pfarrperson zu sein habe in der ersten Reihe, als Teil der Gemeinde. So habe ich das zumindest mal gelernt. Auch wenn die Pfarrperson an der Kirchentür begrüsst, so geht sie dann aber doch rechtzeitig zu ihrem Platz, hält kurz inne und sitzt dort mit dem Rest der Gemeinde, bis die Orgel die Liturgie feierlich eröffnet.

Auch in meiner Zeit in Basel ist mir das damals häufig begegnet. Auffallend waren für mich die wenigen Gemeinden, bei denen die Pfarrperson nicht mit der Gemeinde sass, sondern einen „Priestersitz“ im Kirchenchor hatte – rein aus praktischen Gründen natürlich; wer von uns mag schon den langen Gang von erster Bank zum Ambo mit allen Blicken im Nacken?! Manchmal schien es mir, diese Stühle mussten die wackeligsten und ältesten in der ganzen Kirche sein, um auf Nummer sicher zu gehen, die eventuell geweckte Parallele zur Sitzposition eines Priesters abgesondert von der Gemeinde im heiligen Bereich des Kirchenchores, auszubalancieren.

Über die Jahre war dann aber öfters mal zu beobachten, dass die Pfarrperson zu Beginn des Orgelspiels nicht schon an ihrem Platz – sei es in der ersten Reihe oder im Kirchenchor – war, sondern mit der Orgelmusik erst zu ihrem Platz ging. Das geschah nicht, wie man es auch hochkirchlichen Gottesdiensten kennt, feierlich und andächtig durch den Mittelgang, sondern (Achtung reformiertes Ausgleichsventil!) entlang des engen Seitengangs links an den Bankreihen vorbei, oder quer durchs Kirchenschiff von Sakristei zur Kanzel, oder in ähnlicher Weise auffällig unauffällig. Es machte für mich immer den Eindruck, man wollte etwas wagen, ein bisschen „alte“ Liturgie reinbringen, aber den ganzen Sprung wagte man nicht. Natürlich kann man auch argumentieren, die Bewegung der Pfarrperson oder leitenden Liturg:in ist eine rein praktische Notwendigkeit und die Art und Weise, wie dies geschieht, ist von keinerlei Relevanz für die Verkündigung des Wortes. Dem würde ich jedoch entgegenhalten, dass alles, was im Gottesdienstraum passiert auf irgendeine Weise der Verkündigung zuträglich ist, ihr im Weg steht, ablenkt und auch theologisch eine Botschaft sendet.[1]

Mittlerweile beobachte ich häufiger Kolleg:innen, die mit Einsetzen der Orgelmusik prominent durch den Mittelgang zu ihrem Platz gehen und auch ich selbst hab es mehrfach so gemacht. Häufig aus dem praktischen Grund, dass ich bis zur letzten Minute noch Menschen an der Tür begrüsste. Die Analogie zur Prozession ist – auch bei rein praktischen Gründen – trotzdem unzweifelhaft gegeben. Aus reformierter Perspektive halte ich zwar die Variante: Pfarrperson sitzt beim Einsetzen der Orgel bereits in der ersten Reihe mit der Gemeinde und tritt aus ihren Reihen dann nach vorne und spätestens zum Ausgangsstück wieder dorthin zurück, für schlüssiger, allerdings sehe ich keine schwerwiegenden Einwände gegen einen Einzug der Pfarrperson zur Orgelmusik.

Wenn wir das als Liturg:innen jedoch tun, müssen wir uns bewusst machen, was wir da tun und – auch wenn es vielleicht jetzt so manches Schmunzeln auslöst – wie wir es tun.[2]

Der feierliche Einzug durch den Mittelgang war ursprünglich Teil einer Prozession. Die liturgisch Mitwirkenden, die Geweihten, die Mönche oder Nonnen – je nach dem ob Kathedrale, Dorfkirche oder Kloster eben – zogen mit gesprochenen oder gesungenen Gebeten vom Kreuzgang in die Kirche und dort zogen sie ihre Runden, wie das heute in orthodoxen Kirchen, oder an besonderen Festtagen in r.-katholischen, alt-/christkatholischen und anglikanischen Gottesdiensten noch passiert. Der Einzug durch den Mittelgang war eine verkürzte Version dieser grossen Prozessionen, blieb aber durch alle Zeiten ein Gebet. Die liturgisch Beteiligten sollten diesen Gang nutzen, sich im Gebet auf ihre Aufgabe vorzubereiten und sich klar zu machen, dass sie dieser Aufgabe nur durch Gottes Gnade gewachsen waren. Dies geschah durch laut oder in der Stille gesprochene oder gesungene Gebete beim Einzug (Introitus)[3] oder – im Anglikanischen besonders üblich – durch das Singen eines besonders geeigneten Gemeindeliedes während des Einzugs, bzw. durch Sprechen eines Sündenbekenntnisses.[4]

Was dazu nicht passt – auch wenn man Bewegungen im liturgischen Raum nicht überbewerten möchte – ist ein Hineinschlendern. Ab und an passiert es, die Arme schwingen, der Schritt federt, ob durch den Mittelgang oder der Aare entlang, gleiche Haltung und Bewegung[5] – am besten Ringbuch noch unter dem Arm.[6] Das wäre für mich persönlich ein solcher Fall, bei dem falsche theologische Botschaften gesendet und ein unpassender Eindruck über das gleich geschehende Ereignis Gottesdienst ausgedrückt werden.

Es wäre ein grosser Sprung, diesen Einzug wieder von gesungenen Gebeten oder einem Sündenbekenntnis begleiten zu lassen – für reformierte Gottesdienste sogar ein vielleicht gar nicht wünschenswerter Sprung. Doch ich halte es für wichtig, diesen Gang zu reflektieren. Warum ziehe ich hier zur Orgelmusik ein und sitze nicht schon am Platz als Teil der Gemeinde? Und wenn ich mich für den Einzug entscheide – was ich persönlich ja schön finde – dann wäre es wichtig, es bewusst zu tun und nicht wie beim Spazieren gehen („promenadologischer Einzug“ wäre doch ein schönes Fachwort, das noch zu erfinden wäre), sondern fokussiert, vielleicht mit den Händen ineinander, betend oder sich vorbereitend.

Wobei, um mich gleich selbst in Frage zu stellen: Ein Einzug der Extraklasse und doch die Gott würdigste Prozession, die ich je gesehen habe, war ein Gottesdienst der Episcopal Church in den USA, bei dem der präsidierende Bischof Michael Curry in einer Gemeinde zu Besuch war und der Chor und alle Geistlichen swingend und tanzend in ihren liturgischen Gewändern zu „A little light of mine“ einzogen; diese würdige Freude, dieser Lobpreis aus tiefstem Herzen, dieses Gebet in Gesang und Tanz… (Sicherheitshinweis für europäische Pfarrpersonen: Bitte nicht zu Hause nachmachen).[7]

Es ist schön, wie wir im Bereich reformierter Gottesdienste die Freiheit haben, liturgisch Neues und Altes zu wagen und auszuprobieren, auch wenn anderes vielleicht theologisch naheliegender wäre. Ich möchte mir und allen Kolleg:innen dabei Mut machen, nicht gleich das reformierte Sicherheitsventil zu öffnen und dem liturgisch Schönen die Luft rauszulassen, bevor es überhaupt wirken kann.


[1] Siehe dazu auch die Diskussion bei Thomas Kabel: Übungsbuch Liturgische Präsenz. Gütersloh 2011, 213

[2] Ich erinnere mich an den lauten Protest als wir im Rahmen einer Vikariatsveranstaltung das „Liturgische Schreiten“ üben sollten.

[3] Psalm 43 (Vulgata 42) war ein besonders üblicher Psalm mit seinem Vers 4: Introibo ad altare Dei […]

[4] Das sogenannte Confiteor. Die christkatholische Kirche der Schweiz hat in ihrer Liturgie der Eucharistiefeier diese Tradition noch lebendig in Form eines responsiven Gebets mit Sündenbekenntnis zwischen Priester:in und Gemeinde. Dort spricht der/die Priester:in nach der trinitarischen Eröffnung „Ich will hintreten zum Altare Gottes“, und die Gemeinde antwortet „Zu Gott, meiner frohlockenden Freude.“ Dies wird gefolgt vom Adjutorium und weiteren Versen im Wechsel, bevor zunächst Priester:in und dann Gemeinde Sündenbekenntnisse sprechen (Confiteor). Vgl. Christkatholische Gebet- und Gesangbuch, hrsg. v. Bischof uns Synodalrat der Christkatholischen Kirche der Schweiz, Bd. 1, 2. Aufl., Basel 2006.

[5] Ein anderer Extremfall wäre das völlig in sich versenkte mit hängendem Kopf und vielleicht den Ordner mit den Armen an den Oberkörper gepresst andächtige Abschreiten des Mittelgangs. Vgl. auch Kabel 2011, 15.

[6] Das ist ein Reizthema für Thomas Kabel, der es als „Requisit, das in der protestantischen Kirche eine sehr große Rolle spielt“ bezeichnet (Kabel 2011, 17).

[7] Leider ist das Video dazu mittlerweile nicht mehr auf Youtube zu finden.

André Stephany arbeitet als Doktorand und Assistent am Lehrstuhl für Praktische Theologie in Bern. In seiner Dissertation beschäftigt er sich mit der ehrenamtlichen Verkündiung in der Schweiz.


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Kommentare

4 Antworten zu «Der „promenadologische Einzug“»

  1. Avatar von Thomas Maurer
    Thomas Maurer

    Danke sehr hilfreich werde zukünftig darauf achten nehme immer den Mittelgang claro!

    1. Avatar von André Stephany

      Gerne. Wie gesagt, kein unverrückbares «Nein» zum Mittelgang. Eher ein Mutmacher, wenn schon, denn schon. Alles Gute für die weiteren Gottesdienste.

  2. Avatar von Josef Willa
    Josef Willa

    Sehr schön! – Bemerkung eines katholischen Seelsorgers: Der Einzug durch den Mittelgang deute ich als Sammelbewegung. Er bildet den Abschluss des Sich-Versammelns der Gemeinde und zeigt an: Jetzt sind wir alle ver- und gesammelt, der Gottesdienst kann beginnen.
    In der diesjährigen Karfreitagsliturgie hatte ich diesbezüglich ein eindrückliches Erlebnis: Ich zog in Stille mit Ministrantinnen und Lektoren durch den Mittelgang ein. Die Leute in den Kirchenbänken standen parallel zu unserem Einzug auf. Man hörte ein Rauschen, das sich wie eine Welle von hinten nach vorne bewegte: erhebend im wahrsten Sinne des Wortes.

    1. Avatar von André Stephany

      Vielen Dank für diese Bemerkung aus anderer Perspektive und die Schilderung dieser eindrücklichen Erlebnisses.
      Es stimmt, mit Einsetzung der Musik und dem Ingangsetzen der Prozession ist die Versammlung der Gemeinde abgeschlossen und die geistliche Sammlung und Vorbereitung bekommt ihre Raum. Auch weiterhin erhebende Erfahrungen im Gottesdienst und alles Gute.

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