Jenseits der Weihnachtslieder-Hitparade

Jenseits der Weihnachtslieder-Hitparade

„O du Fröhliche“, „Das isch de Stärn vo Bethlehem“ oder „Es ist ein Ros entsprungen“. Sie landen in der Hitparade der Weihnachtslieder ganz oben und gehören sicher zu den Liedern, die vielerorts in Weihnachtsgottesdiensten gesungen werden. Vieles spricht für diese alten Bekannten: sie sind einigermassen vertraut, sie sind schön und stellen einen emotionalen Bezug zu Weihnachten her: wenn ich diese Lieder singe, dann wird es Weihnachten. Abseits der Evergreens gibt es aber noch so einiges zu entdecken.

Katrin Kusmierz

Noch nie in einem Weihnachtsgottesdienst gesungen habe ich die Nummer 428 aus dem Gesangbuch der evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz.[1] „Christus wird geboren in den Schmerz der Zeit“. Der Text stammt vom deutschen Pfarrer Dieter Frettlöh (1924-2004), die Melodie von Rolf Schweizer (1936-2016).

Christus wird geboren / in den Schmerz der Zeit.

Öffne Deine Ohren, / taube Christenheit.

Hör den Schrei der Armen / und der Engel Lied.

Gott will sich erbarmen / wo er Elend sieht.

Christus wird geboren / in den Hungertod.

Öffne deine Hände, / brich für ihn das Brot.

Teile mit den Armen / und der Hirtenschar.

Gott will sich erbarmen, / er speist wunderbar.

Christus wird geboren / in die Dunkelheit.

Öffne deine Augen, / blinde Christenheit.

Sieh die Not der Armen / und das Kind im Stall.

Gott will sich erbarmen, / hier und überall.

Ein anderes Weihnachtslied

Es ist leicht, Gründe dafür zu anzuführen, warum dieses Lied kaum oder nicht häufig für einen Gottesdienst am Heiligabend oder am Weihnachtsmorgen auswählt wird. Es kontrastiert stark mit dem Sternenlichterglanz anderer Lieder und ruft mit teils drastischen Wendungen den Singenden Realitäten ins Gedächtnis, die so gar nicht zur heilen Weihnachtswelt passen wollen: der „Schrei der Armen“ mischt sich in diesem Lied unbequem in den Weihnachtsgesang der Gemeinde. Die Geburt wirft das Kind nicht in das volle Leben hinein, sondern in den Hungertod – die radikalste Formulierung im Lied. Dass die weihnachtliche Gemeinde mit der Zuschreibung konfrontiert wird, sie sei taub und blind, ist eine weitere Zumutung. Und überhaupt: wer ist „die Christenheit“ und gehöre ich überhaupt dazu? – so könnte sich manch Feiernde:r fragen. Hinzu kommt: die Melodie ist wenig vertraut; auch sie knüpft nicht an jubelnde Engelschöre an oder an die die Poesie tragenden, herzerwärmenden Moll-Klänge eines „Maria durch den Dornwald ging“.

Weihnachten darf glitzern und leuchten und die Sehnsucht nach einer friedvollen, heilen Welt wecken. Es darf eine Oase der temporären Seligkeit sein, die in weniger glanzvolle Zeiten ausstrahlt. Je heller jedoch das Licht strahlt, desto undurchsichtiger wird das Dunkel. Die Blicke der Betrachtenden richten sich gebannt auf die Quelle des Lichts. Das Feuer knistert, und das Dunkel des Waldes rundherum wird noch schwärzer. Hier zündet das Lied von Frettlöh und Schweizer eine neue Kerze an. Diese lenkt für einen Moment die Augen (und Ohren) in eine andere Richtung – in „den Schmerz der Zeit“, in die Dunkelheit und damit auf den Kern von Weihnachten: „Gott will im Dunkel wohnen“ so heisst es in Jochen Kleppers Lied „Die Nacht ist vorgedrungen“. Das „Christus wird geboren, in den Schmerz der Zeit“ ist eine weitere Variation dieses weihnachtlichen Grundthemas.

Lied in der Zeit

Geschrieben und komponiert wurde das Lied 1980. Dieter Frettlöh war lange Jahre Gefängnispfarrer. Mit diesem Kontext und mit den von ihm begleiteten Gefangenen vor Augen hat er das Lied geschrieben. Er wollte die Weihnachtsbotschaft auch für diese Menschen zugänglich machen, deren Welt weit von allem Glitzerglanz entfernt ist. In einem Brief an Hans-Jörg Stefan schreibt Dieter Frettlöh 1990: „Die Gefangenen kannten viele Melodien, lehnten aber oft die Texte als nicht mehr nachvollziehbar ab. Dafür habe ich viel Verständnis … Mir geht es darum, mehr in einer Alltagssprache zu schreiben als in einer liturgischen oder frommen Sprache. Ich musste mich ja auf kirchliche Randsiedler und Kirchenfremde einstellen. Ich denke, wer die Gottesdienste weltlos macht, der macht sie gottlos, sofern Gott die Welt geliebt hat, dass er seinen Sohn in sie sandte.“[2]

Nicht nur der spezifische Kontext des Gefängnisses prägte den Text des Liedes, sondern vermutlich auch der allgemeine zeit- und theologiegeschichtliche. Politische und Befreiungstheologien setzten neue Akzente und rückten Christus als Bruder der Armen in den Vordergrund. Sie betonten: Gott zeigt sich radikal solidarisch mit den Benachteiligten, den Hungernden, den Unterdrückten. Dies klingt im Lied an und erklärt die eindringliche Aufforderung an die Singenden, sich für Arme einzusetzen und vielleicht auch die appell-artigen Formulierungen: „Hör den Schrei der Armen“ (Strophe 2), „Teile mit den Armen“ (Str. 4) und „Sieh die Not der Armen“ (Str. 6). Die Angesprochenen sind darin nicht nur die Menschen im Gefängnis, sondern die Singenden überhaupt, die hier als „Christenheit“ bezeichnet werden. Heute ist dieser Begriff – zumindest im westlichen Kontext – etwas brüchiger geworden, er signalisiert aber, dass es nicht nur die Aufgabe einzelner ist, Armut und Benachteiligung entgegenzuwirken, sondern dass dies auch in der Verantwortung der Kirche und der weltweiten Gemeinschaft der Christ:innen liegt. Auch stehen wir heute Pauschalisierungen skeptischer gegenüber: von „den“ Armen würden wir vorsichtiger sprechen und nicht, ohne zumindest die vielfältigen Ursachen und Ausprägungen von Armut differenzierter darstellen zu wollen. Nichtsdestotrotz: das Anliegen des Liedes hat nichts an Aktualität verloren. Und wenn die Aufforderung „Hör!“; “Teil!“; „Sieh!“ in ihrer Direktheit den Singenden zu einer Zumutung wird, zeigt dies, dass sie nach wie vor einen wunden Punkt trifft, indem sie das Wegschauen entlarvt.

Welten verschmelzen

Der Text des Liedes ist nach einem strengen Rhythmus organisiert, gekennzeichnet von Wiederholungen von Wortgruppen im Wechsel der Strophen – so beispielsweise beginnen alle ungeraden Strophen mit „Christus wird geboren“, alle geraden Strophen lenken die Aufmerksamkeit auf die Armen. Mit Nachdruck wird hier auch das „Gott will sich erbarmen“ wiederholt.

Die grosse Stärke des Liedes liegt darin, dass es die weihnachtliche Urszene mit der Gegenwart verbindet. Mit dem Präsens („Christus wird geboren“) bleibt die Geburt des Kindes nicht ein einmaliges historisches Ereignis, sondern wird zu einem Geschehen, das jetzt und überall stattfindet. Gott kommt immer wieder zur Welt. Ebenso wird dies in den geraden Strophen deutlich, in denen die im Lied Angesprochenen, „die Armen“ und die Protagonisten der Weihnachtsgeschichte, sich gemeinsam in dieser Szenerie bewegen, die damit zwischen damals und heute changiert: „Hör den Schrei der Armen und der Engel Lied“; „Teile mit den Armen und der Hirtenschar“; „Sieh die Not der Armen und das Kind im Stall“. Das, was die Singenden tun sollen, soll und kann deshalb geschehen, weil Augen und Ohren sich am weihnachtlichen Wunder ausrichten. Ich kann das Kind im Stall, „arm und bloss“ nicht anschauen und gleichzeitig an den Armen vorbeiblicken. In den Hirten werden die Armen konkret. Und das Lied der Engel erklingt nicht fernab in himmlischen Sphären, sondern mit und in den Schreien, Seufzern und Klagen der Menschen.


[1] Auch im Katholischen und Christkatholischen Gesangbuch der Schweiz ist es zu finden, unter den Nummern 354 (KG) und 572 (CG).

[2] Zitiert in Herbert Ulrichs Kommentar zum Lied im Ökumenischen Liederkommentar zum Katholischen, Reformierten und Christkatholischen Gesangbuch der Schweiz, Freiburg / Basel / Zürich 2001, der diesem Blog als Grundlage diente. Siehe auch ders., Das Unabgeschlossene von Weihnachten, in Neues Singen für die Kirche 1/98, 6-7.

 

Dr. Katrin Kusmierz ist Dozentin und Wiss. Geschäftsführerin des Kompetenzzentrum Liturgik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern.

3 thoughts on “Jenseits der Weihnachtslieder-Hitparade

  1. Liebe Katrin, herzlichen Dank für diesen Hinweis und «Augenöffner» – meist werden solche Lieder «ausgelassen», weil sie von der Melodie her nicht bekannt sind und darum vermeintlich auch der Gemeinde gar nicht zugemutet werden können. Doch wirklich schwierig ist die Melodie ja durchaus nicht. Eigentlich wäre das ein ideales Lied für eine Liedpredigt, z.B. am 26.12. oder 31.12., meinetwegen sogar am 25. morgens. Wahrscheinlich liesse sich nur so mit den «versteckten Aggressionen» im Text einigermassen konstruktiv umgehen…
    Frohe Weihnachten und herzlichen Gruss Hanspeter

  2. Wow, was für ein Wiehnachtslied! Vielen Dank, Katrin, hast Du diesen Schatz ausgehoben und uns so wertvolle Informationen dazu mitgegeben. Liebe Grüsse, Daniel

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