Die schottischen Reformierten mögen liturgische Ein- und Auszüge. Das überrascht. Was mich als Schweizer zunächst katholisch oder anglikanisch und jedenfalls hochkirchlich und etwas fremd anmutet, scheint im reformierten Schottland zur liturgischen DNA zu gehören. Die Ein- und Auszüge sind, so will ich in diesem Blog zeigen, mehr als Vor- und Abspann der Liturgie. Sie sind integraler Teil derselben als affektiv wirkungsvolle rites de passage.
David Plüss
Der Einzug
In der St. Giles’ Cathetral auf dem Schlosshügel von Edinburgh ziehen der Chor und alle mit einer liturgischen Rolle Betrauten jeweils gemeinsam singend feierlich ein, begleitet von kräftigen Orgelklängen. Am Schluss des Gottesdienstes ziehen sie wieder aus. Während des Ein- und Auszugs steht die Gemeinde, stimmt kräftig in den Einzugsgesang ein oder bleibt andächtig still. Der Einzug erfolgt zügig, aber dauert doch eine Weile, weil der Weg von der südlichen Sakristei im Ostteil der Kathedrale durch das nördliche Seitenschiff zum Westportal und durch den Mittelgang zum altarförmigen Abendmahlstisch und zum Chorraum südlich desselben lang ist. Ich erlebte ihn tatsächlich als Rite de passage, als feierliche Überschreitung einer liturgischen Schwelle oder genauer: als formschöne und wirkungsvolle Eröffnung der Feier. Das Aufstehen, das Mitsingen oder andächtige Schweigen und die dafür aufgewendete Zeit halfen mir, mich zu sammeln und auf das nun Folgende einzustellen oder die Schwelle zurück in den Alltag der Welt mental und zugleich körperlich zu überschreiten.
Prozessionen rund um die Kollekte
Innerhalb der reformierten Liturgie in St. Giles gibt es weitere Wege, die feierlich begangen werden. So stellt sich die Pfarrerin nach dem Einsammeln der Kollekte durch die Presbyter mit einem grossen, ziselierten Teller aus Goldblech, den sie senkrecht wie ein Schild vor sich hält, vor den Abendmahlstisch. Sobald die Presbyter die Kollekte ohne Hektik eingesammelt haben, stellen sie sich mit den purpurfarbenen Samtbeuteln hinten in den Mittelgang und warten, bis alle anderen auch soweit sind, um dann gemeinsam zu der sie erwartenden Liturgin zu schreiten. Diese hält nun den grossen Goldteller waagrecht, die Kollektenbeutel werden auf den Teller gelegt, die Liturgin dreht sich um in Richtung Abendmahlstisch und hebt den Teller hoch – offenkundig eine Geste der Darbringung. Die Kollektenhelfer:innen bleiben stehen und warten, bis sich die Liturgin wieder umdreht und einer der Presbyter:innen den Teller überreicht, die damit in die Sakristei geht.
Abendmahl als performative Darbringung
Bald darauf werden, von Orgelspiel begleitet, ebenfalls von zwei Presbyter:innen, Brot und Wein aus der Sakristei hereingebracht und auf den Abendmahlstisch gestellt. Dieses Hereintragen erfolgt wiederum feierlich, weder beiläufig noch hektisch. Damit wird nichts nachgeholt, was bereits vor dem Gottesdienst hätte erfolgen können oder sollen, um den Ablauf der Gebete nicht zu stören. Oder die nur darum so spät erfolgt, weil sonst zu wenig Platz auf dem Tisch wäre. Nein, was hier geschieht, ist Teil der Liturgie, ist theologia prima, primäre, ursprüngliche, körperliche Bewegung gewordene Theologie. Das Abendmahl wird als dankbare Darbringung (im Sinne von lat. offerre), als Eucharistie, sinnlich, körperlich und kinetisch in Szene gesetzt, als Darstellung und Mitteilung des Geheimnisses des Glaubens.
Festprozessionen
Bei festlichen Gottesdiensten werden die Ein- und Auszüge aufwändiger und vielfältiger gestaltet. Beim Eröffnungsgottesdienst der jährlich, seit rund 470 Jahren stattfindenden General Assembly der Church of Scotland ziehen erst die Stadtregierung sowie Repräsentant:innen des Rechts und der Medizin mit ihren Begleitern und Beschützern ein, alle gekleidet in unterschiedlichen Farben. Alle Einzüge beginnen, erfolgen und enden koordiniert, feierlich, ernst, oft schweigend, ohne – das erstaunt mich am meisten! – steif zu wirken. Der High Commissioner, der das Königshaus vertritt, die Kirchenleitung und die Liturg:innen werden zuerst auf dem Platz vor der Kathedrale von einem grossen schottischen Orchester mit Pipes and Drums empfangen und ziehen dann durch das Westportal in die Kirche ein. Während aller Ein- und Auszüge steht die versammelte Gemeinde und wartet, bis sich die Eingezogenen platziert haben und die vorstehende Liturgin sie auffordert: «Please be seated!».
Generalsynode
Eine weitere Spielform: Die erste Arbeitssitzung der General Assembly im grossen, eigens dafür gebauten Plenarsaal des New College zwischen Cathedral und Schloss beginnt mit einer kleinen Abendmahlsfeier. Zu Beginn erhebt sich die rund dreihundertköpfige Versammlung und von den zwei hinteren Eingängen werden von je etwa zwanzig Abendmahlshelfer:innen Brot und Wein hereingetragen. Schweigend, ohne Musik. Aufgrund der Vielzahl der Helfenden dauert diese Prozession lange. Interessanterweise hatte ich zu keinem Augenblick die Empfindung der Länge oder Langeweile, wohl aber der Würde und der Feierlichkeit, der inneren Sammlung und Vorbereitung. Bei jeder der folgenden Arbeitseinheiten rief jemand zu Beginn mit lauter Stimme: «Moderator», die Versammelten erheben sich, The Moderator zieht ein, stellt sich vorne auf der Tribüne vor den für sie bestimmten Sitz, verneigt sich zu ihrer Rechten, worauf sich alle auf der rechten Seite Stehenden verneigen, verneigt sich zu ihrer Linken und am Schluss gegen die Mitte. Nach dieser gestischen Begrüssung und Ehrerbietung lässt The Moderator die Versammlung mit «Please be seated» sich hinsetzen und eröffnet und beginnt mit dem nächsten Traktandum.
Woher die Freude an liturgischen Ein- und Auszügen?
Man kann sich nun fragen, wie es zu dieser Liebe und Sorgfalt für liturgische Prozessionen kommt. Es wäre ja auch denkbar, dass sich die schottischen Reformierten dadurch von der Church of England abgrenzen, dass sie die hochkirchlich anmutenden Aufwände geringhalten. Das ist aber nicht der Fall. Die Liebe zur formschönen Darstellung und Mitteilung des Glaubens in unterschiedlicher Gestalt scheint hier die Reformierten mit der Church of England und dem Königshaus zu verbinden. Ich nehme das mit etwas Neid zur Kenntnis. Denn die Ein- und Auszüge sind, wie eingangs erwähnt, nicht nur feierliches Beiwerk der Liturgie, sondern körperlich dargestellte, erfahrbare und intuitiv plausible Elemente der gottesdienstlichen Sammlung und der Sendung.
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