Was dem einen der Berggipfel, ist der anderen das Wasser. Ich bin die andere. Dabei ist ‚am Wasser‘ natürlich kein konkreter Ort. Eher eine Konstellation. Vielfältig variierbar. Und vielfältig religiös anschlussfähig.
Ursula Roth
David Plüss zum 60. Geburtstag
Was dem einen der Berggipfel, ist der anderen das Wasser. Ich bin die andere. Dabei ist ‚am Wasser‘ natürlich kein konkreter Ort. Eher eine Konstellation. Vielfältig variierbar. Und vielfältig religiös anschlussfähig. An der Küste stehen und sich im Blick auf die Meeresoberfläche verlieren – an einem sommerlich heissen Tag in den kühlen See eintauchen – dem mäandernden Lauf eines Flusses folgen und an den quirlig-verstrudelten Strömungsmustern die unermüdlich vorwärtsdrängende Schubkraft des Wassers betrachten – und anhand des glucksenden Plitscherns im Bergwald eine Quelle entdecken und mit dem Gefühl von Dankbarkeit das geschenkte Wasser bestaunen. Meer, See, Fluss, Quelle – Erscheinungsformen natürlichen Wassers sind längst vielfach metaphorisch überlagert – es gelingt kaum, sie in Augenschein zu nehmen und zu erleben, ohne dass sie zur Spiegelfläche für die eigene Stimmung, für die Betrachtung der eigenen Existenz oder des Lebens insgesamt werden. Das gilt insbesondere für diejenigen Betrachtenden, die sich von dem durch die Romantik kultivierten Blick auf die Natur inspirieren lassen – wohlwissend oder auch nur unbewusst, indem beim Betrachten kulturell geprägte Sehgewohnheiten stillschweigend übernommen werden. Und es gilt vor allem auch für alle, die darüber hinaus ein Faible für die impressionistische Neuentdeckung der Natur in der Malerei oder Musik haben. Mendelssohn Bartholdys ‚Hebriden‘, Smetanas ‚Moldau‘ oder Debussys ‚La Mer‘ im Ohr und/oder Gemälde von Caspar David Friedrich, William Turner oder Claude Monet vor Augen gerät die Begegnung mit natürlichem Wasser zum kultur- und kunstgeschichtlichen Überlagerungs- und Überblendungsspiel vielschichtiger auf das Wasser bezogener Optiken und Akustiken. Die Kunst leistet Erste Seh- und Hör-Hilfe für die Wahrnehmung von Wasser-Konstellationen. Zwei davon greife ich heraus.
Meer sehen
Der Blick aufs Meer fasziniert, beglückt und begeistert Menschen seit jeher – vor allem jene, die nicht selbst am Meer leben. Wer tagtäglich mit dem Meer zu tun hat, weiss um dessen alltägliche Widrigkeiten, vor allem auch um die Gefahr, die vom Wasser ausgehen kann. Die Faszination, die der Blick auf das Meer auslösen kann, setzt einen anderen, einen spezifisch ästhetischen Blickmodus voraus, einen vom Alltag distanzierenden und den Alltag verfremdenden Blick. Was genau diese Faszination auslöst, ist gar nicht leicht zu sagen. Denn genau genommen ist beim – ersten – Blick auf das Meer meist gar nicht viel zu sehen. Eine farblich nur geringfügig abschattierte, breit ausgedehnte Fläche, die sich bis zum Horizont erstreckt. Doch das Faszinierende am Blick auf das Meer entsteht genau in diesem Moment: nichts Konkretes zu sehen, dieses ‚nichts Konkretes‘ allerdings in überwältigender Überfülle. Der Blick gleitet über die Meeresoberfläche und findet nicht recht Halt. Der Anblick der Meeresoberfläche entgrenzt die eigene Blickweise eigentümlich, defokussiert den Blick. Genau dieser defokussierende Effekt macht das beeindruckende Ausmass des Meeres erahnbar. Gerade das Übermass und die Grenzenlosigkeit dessen, was (nicht) in den Blick kommt, berührt die Betrachterin – und kann zum Sinnbild für Unendlichkeit und Ewigkeit werden. Das gilt insbesondere, wenn die eigene Position mit ins Spiel kommt: Der Blick auf das Meer stellt dem Menschen «die Disproportionalität seines Daseins in der Welt vor Augen»[1]. Der Gegensatz von ‚ich hier‘ und dem unüberschaubaren Meer dort, von begrenzter Perspektive hier und unüberblickbarem Übermass dort, von Begrenztheit und Grenzenlosigkeit macht die «Inkommensurabilität des Humanen»[2] erfahrbar – genau dieser Effekt kann den Blick auf das Meer nicht nur zur ästhetischen Erfahrung, sondern darüber hinaus zur spirituellen oder religiösen Erfahrung, zur Erahnung von Transzendenz werden lassen. ‚Meer sehen‘ kann selbst zur Praktik mit religiösem Potential werden.
Der Blick auf das Meer fasziniert aber auch in einer anderen Hinsicht. Beim zweiten Blick wird sichtbar, dass es sich bei der Oberfläche des Meeres keineswegs um eine in Form oder Farbe einheitliche Fläche handelt. Nein, das Aussehen der Meeresoberfläche variiert je nach Unterwasserflora, Wind und Lichteinfall. Und auch die Annahme, dass sich die Farbe der Meeresoberfläche in einem Spektrum von Grün‑, Türkis‑, Blau- und Grautönen bewegt, erweist sich als Trugschluss. Das Meer zeigt sich in einem vielfältigen Spiel von Licht und Schatten, Form und Farbe. Die Farbfläche ist durchsetzt durch vielfach gebrochene Spiegelungen dessen, was nicht im, sondern über dem Wasser zu sehen ist – Himmel, Wolken, vor allem das Sonnenlicht – es entsteht ein Spiel unzähliger Brechungen bis hin zum Teppich aus glitzernden Lichtpunkten, der sich aufgrund der Wellenbewegungen ständig verändert. Die Spiegeleffekte erweitern die durch das Wasser vorgegebene Farbpalette um Gelb‑, Orange‑, Rot‑ und Violetttöne. Je nach Wetter kann die Farbfläche des Meeres auch durch Schaumkronen oder hoch aufgetürmte Wellenberge, durch Brandung und Gischt unterbrochen sein. Der Blick von der englischen Steilküste auf den dunklen, bedrohlich und wild wirkenden Atlantik ist mit dem Blick vom griechischen Sandstrand auf die scheinbar friedlich und einladend anmutende Ägäis kaum zu vergleichen.
Der Blick auf das Meer fasziniert in dieser Fülle an Eindrücken. In ihrer ständigen Bewegung und dem flackernden Reflektieren des Lichts vermittelt die Meeresoberfläche Lebendigkeit und Dynamik und hat zugleich eine beruhigende, fast meditative Wirkung. Das, was zu sehen ist, lädt ein, zum Spiegel für anderes zu werden – für eigene Empfindungen, die durch das Farb- und Formenspiel angeregt oder erinnert werden und sich der inneren Betrachtung darbieten.
In den kühlen See eintauchen
Während der Blick auf das Meer viel mit Sehen und Hören, mit Spiegeleffekten und Betrachtungsmodi zu tun hat, überwiegt beim Eintauchen in den kühlen See eine andere Empfindung: die rein körperliche Empfindung des Hautkontakts, der unmittelbaren körperlichen Berührung, eine «ganzheitlich umschließende Rundumempfindung»[3]. In den See einzutauchen, heisst, sich von einem ganz anderen Element umschliessen zu lassen und umschlossen zu sein – umschlossen von Wasser, das als Urelement des Lebens gilt. Die Trennung von Ich und Aussenwelt ist in diesem ‚ozeanischen Gefühl‘ nicht aufgehoben, aber doch eigentümlich modifiziert. Sich im Wasser zu bewegen, wird seit jeher als lustvoll und beglückend beschrieben.
Das Körpergefühl im bzw. unter Wasser ist mit dem an Land kaum zu vergleichen. Der Auftrieb reduziert das Gewicht des eigenen Körpers, im Wasser fühlt sich der eigene Körper wunderbar leicht an – fast wie fliegen. Zugleich wirken die Bewegungen wie abgebremst, wie im Slow-Motion-Modus. Und wer dann sogar die Kunst beherrscht, durch entsprechende, den Tieren abgeschaute Schwimmbewegungen nicht abzusinken, sondern an der Wasseroberfläche wunderbar gleitend sich treiben lassen oder auch gezielt eine Strecke zurücklegen zu können, der kennt eine weitere Facette dieses In-den-See-Eintauchens. Schwimmen zu können, heisst, im ständigen Austarieren zwischen Auftriebskraft des Wassers und eigenen eingeübten Bewegungen Halt zu finden, wo kein eigentlicher Halt ist – im ständigen Ausgleich zwischen Getragen-Werden und Sich-tragen-Lassen den eigenen Körper aktiv und passiv zugleich zu erleben. Schwimmen lernt, wer am besten gar nicht recht nachdenkt, wie das eine mit dem anderen zusammengeht, um das Wasser als tragend erleben zu können.[4]
In den kühlen See einzutauchen, dient nur selten einem klaren Ziel – etwa von A nach B zu kommen. Sich im Wasser zu bewegen, ist zwar häufig auch durch einen rationalen Zweck wie Abkühlung oder körperliche Ertüchtigung begründet, doch geht es darin nie auf. Sich im Wasser zu bewegen, ist für viele selbst körperlicher Genuss, der «eine Daseinslust sondergleichen beschert und fast alle Sünden vergessen lässt»[5]. Der Genuss gipfelt in der Erfahrung, sich an einem sonnigen Sommertag im kühlen See in Rückenlage treiben zu lassen – gleichsam schwebend, nur durch geringe Bewegungen im Gleichgewicht gehalten, den Blick gen Himmel gerichtet und mit einer beglückenden Mischung aus Lebenslust und Existenzfreude erfüllt.
Den Blick auf das Meer richten oder in den See eintauchen – Praxisformen wie diese changieren zwischen Naturerleben und einer Form spezifisch neuzeitlich geprägter, privat-religiös praktizierter Natur- oder Schöpfungsfrömmigkeit. Die Übergänge sind fließend und lassen sich wohl nur von den Praktizierenden selbst bestimmen. Auch wenn sich keine unmittelbaren homiletischen oder liturgischen Konsequenzen benennen lassen, ist der praktisch-theologische Erkenntnisgewinn gleichwohl beachtlich. Dass Praxisformen des Sehens[6] oder körperbezogene Praxisformen wie Gehen oder Schwimmen als Momente spezifisch neuzeitlich geprägter Frömmigkeitspraxis begreifbar werden können, untermauert die Erkenntnis der lebensweltlichen Relevanz spätmoderner Frömmigkeitspraktiken, die zu kennen für die kirchliche Praxis – nicht nur für jene Praxisbereiche im Kontext der Freizeit- oder Urlaubswelt – unverzichtbar ist.
[1] Hermann Timm, Zwischenfälle. Die religiöse Grundierung des All-Tags, Gütersloh 31986, 61.
[2] Ebd.
[3] A. a. O. 65.
[4] Vgl. insgesamt dazu a. a. O., 59ff.
[5] A. a. O., 59.
[6] Vgl. Eva Schürmann, Sehen als Praxis. Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht, Frankfurt/M. 2008.
Aus oben genanntem Anlass veröffentlichen wir eine Reihe von Blogs auf liturgikblog.unibe.ch sowie auf theos.unibe.ch. Es sind Beiträge zu theologisch, bzw. religiös bedeutsamen Orten: auf theos sind es Orte in der Schweiz, auf dem Liturgikblog Orte aus aller Welt. Die Autor:innen – Kolleg:innen aus der Schweiz und aus dem Ausland – erkunden dabei die Verbindung von Orten, bzw. Landschaften einerseits und Religion, Spiritualität und Ritualität andererseits.
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