Die 17

Der bedeutsame Ort, der hier abgebildet ist, ist ein Uferstück: Man sieht zwar nicht den See, aber man erkennt den erdigen Untergrund und das hoch gewachsene Gras. Mein Golfball ist hier gelandet, und zwar glücklicherweise jenseits der durch den gelben Pfosten markierten Penalty-Area. Den Pfosten darf ich herausziehen, hinlegen und ich kann den Ball, der sich zum Glück kaum eingegraben hat, ohne Strafschlag weiterspielen.

Birgit Weyel

David Plüss zum 60. Geburtstag

Das Foto habe ich zu dokumentarischen Zwecken für mich und andere gemacht: Zum ersten Mal ist es mir gelungen, meinen Golfball am Loch 17 über den See zu schlagen![1]

Die Handlungsmacht des Golfballs

Schon häufig habe ich gedacht, dass die Praktische Theologie ihren Subjekten (in diesem Fall: mir) dazu verhilft, lebensweltlichen Situationen nicht einfach ausgeliefert zu sein, sondern sie auch bewältigen zu können. Die grundlegende Bewältigungsstrategie, das Coping, liegt darin, Reflexionsperspektiven im Alltag parat zu haben. Theorie schafft eine Distanz, die die individuelle Beteiligung nicht leugnet oder beiseiteschafft, sondern methodisch integriert und das Beste daraus macht.

Der bedeutsame Ort ist somit aus Sicht der Praktischen Theologie als eine Situation zu begreifen, die theoretische Zugänge provoziert und dadurch Kontingenzbewältigung möglich macht, um mit dem Zufälligen und nicht Beeinflussbaren des Lebens umzugehen. «Scientific theories begin with situations … Theories are responses to the contingencies of these situations – courses of action articulated with yet more courses of action.»[2] Das bedeutet aber auch, dass ein naiver Zugang zu Orten verwehrt bleibt.

Im Fall von Loch 17 etwa bedeutet das, dass sich die Komplexität der Situation nahezu aufdrängt. Eine Differenzierung zwischen Natur (See, Gras, Steine Erde) und Kultur (Golfball, ein von Menschenhand bearbeiteter Holzstock) erscheint nicht nur beliebig, sondern muss als ein Denken entlarvt werden, das der dualistisch konstruierten Moderne[3] verhaftet bleibt: Die Kehrseite von Natur, die als unberührter (Sehnsuchts-)Ort konstruiert wird, ist ein starker Anthropozentrismus, der Kultur und Gesellschaft als abgetrennte Bereiche definiert, um sich der Natur bemächtigen zu können. Ebenso problematisch ist es, sich auf eine vermeintlich reine Natur zu beziehen, um etwas axiomatisch und letztgültig zu setzen.

Der bedeutsame Ort ist immer schon eine sozial und kulturell formatierte oder – mit Erving Goffman: gerahmte – Situation. Eine kulturtheoretisch informierte und sozialkonstruktivistisch sensibilisierte Praktische Theologie wird Zuschreibungsprozesse als solche benennen und mit Bruno Latour[4] die Hybridität des Sozialen unterstreichen. Dass ein Golfball Handlungsmacht besitzt, wird man einer Golfspielerin nicht lange erklären müssen. Längst bringt sich dieses geteilte Wissen in der Sprache zum Ausdruck: Schläge «kommen» oder sie kommen eben nicht. Eine anthropozentrische Intentionalität wird immer schon durch die Mitspieler (Wind, Wasser, Materialität, Dreck am Ball) marginalisiert oder doch zumindest relativiert. Man könnte dieses Phänomen noch als eine für Ballspiele typische und reizvolle Form von Kontingenz ansehen, wenn nicht im Golfsport in diesem Zusammenhang regelmässig von «Demut» die Rede wäre.

Wertevermittlung

Golf lehre Demut, das bekommt man schon in einer der ersten Lektionen mit auf den Weg gegeben und es wird beständig, wie ein Mantra, wiederholt. Steuert man nach dem 18. Loch wieder auf das Gelände des Clubs zurück, so dauert es nicht lange und man wird angesprochen, wie es denn gelaufen sei.[5] Dabei gehört es sich selbstverständlich, sich nicht anders als selbstkritisch zum eigenen Spiel zu äussern. Die sozialen Normen sind streng. «Man muss demütig sein.» Das bekommt man dann in der Regel zu hören, so dass man selbst in diese liturgische Formel einzustimmen geneigt ist. Die Demutsformel wird ausdrücklich nicht nur mit dem eigenen Unvermögen oder der mangelnden Passung zwischen Selbstanspruch und eigener Spielstärke in Verbindung gebracht, sondern mit der Natur als Akteurin mit eigener Agency: «Trotzdem kämpfen wir weiter und lernen dabei Demut, denn auf dem Golfplatz entscheiden wir nicht alles selbst. Die Natur macht uns regelmäßig einen Strich durch die Rechnung.»[6] Man gewinnt den Eindruck, dass es gar nicht primär darum gehe, das eigene Spiel zu entwickeln oder Spass zu haben, sondern an der eigenen Person zu arbeiten. «Nicht schreien, nicht schummeln, Contenance bewahren, wenn es nicht so läuft […]. Das bedeutet Selbstbeherrschung und hilft unter anderem im Alltag die Dinge gelassener zu nehmen.»[7]

Gender-Gap

Die Euphorie, die mich an dem bedeutsamen Ort erfasst hat, so dass ich meine Balllage fotografisch festgehalten habe, ja, festhalten musste, passt nicht zur angestrebten Demut. Sie stimmt aber zusammen mit der Selbstreflexivität «körperlich-mimetischer Lernprozesse und Normen»[8]. Der bedeutsame Ort verweist auf soziale Situationen, die von vielfältigen Gender-Gaps geprägt sind und den Ort konstituieren. Die Euphorie und der Zwang zur Dokumentation erklärt sich nämlich so, dass Personen, die als weiblich gelesen werden, abgesprochen wird, den Ball auf direktem Wege über den See zu driven. Das sei ja ganz ungerecht, dass Frauen auf Loch 17 überhaupt keine Chance hätten. Weil es viel zu weit sei. Schon wegen der Physis. So mein Mitspieler, den ich erst seit etwa zwei Stunden (seit Loch 10) kenne und bis dahin eigentlich ganz nett fand. Die Praktische Theologie muss damit leben, dass ihre theoretischen Zugänge zu lebensweltlichen Orten (in diesem Fall der Sozialkonstruktivismus) von anderen nicht geteilt werden oder kaum zugänglich erscheinen, aber manchmal plausibilisieren sie sich alltagspraktisch. Die 17 ist ein solcher bedeutsamer Ort.

 

Prof. Dr. Birgit Weyel ist Professorin für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Seelsorge und Pastoraltheologie an der Eberhard Karls-Universität in Tübingen.

 

Aus oben genanntem Anlass veröffentlichen wir eine Reihe von Blogs  auf liturgikblog.unibe.ch sowie auf theos.unibe.ch. Es sind Beiträge zu theologisch, bzw. religiös bedeutsamen Orten: auf theos sind es Orte in der Schweiz, auf dem Liturgikblog Orte aus aller Welt. Die Autor:innen – Kolleg:innen aus der Schweiz und aus dem Ausland – erkunden dabei die Verbindung von Orten, bzw. Landschaften einerseits und Religion, Spiritualität und Ritualität andererseits.

 

[1] https://gc-schloss-kressbach.de/golfanlage/meisterschaftsplatz.html Hier findet sich auch ein kurzer Film, der einen Eindruck aus der Perspektive des Ballflugs auf Loch 17 vermittelt (abgerufen am 26.05.2024).

[2]  S.L. Star: Regions of the mind. Brain Research and the Quest for Scientific Certainty, Stanford 1989, 15f.

[3] Zum Zusammenhang von Naturbeherrschung und Sozialkonstruktivismus vgl. André Hinderlich: Kurzer Umriss einer dualistisch konstruierten Moderne in der Soziologie und ihr Bruch bei Bruno Latour, in: Natur-Kultur-Verhältnisse bei Bruno Latour, Wiesbaden 20237–17; https://doi.org/10.1007/978-3-658-42450-3_2.

[4] Bruno Latour: Eine Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt am Main, 2007.

[5] In der Regel ist dies jemand, der zur Kerngemeinde gehört. Als praktisch-theologische Kategorie von Kirchenzugehörigkeit eignet sich die Zuschreibung zwar überhaupt nicht.  Auf dem Golfplatz trifft sie zu: Die Kerngemeinde ist immer da.

[6] https://golfersparadise.ch/blog/Warum-Golf-suechtig-macht/ (abgerufen am 26.05.2024).

[7] Ebd.

[8] David Plüss und Alexander Deeg: Liturgik (Lehrbuch Praktische Theologie Band 5), Gütersloh 2021, 15.


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