Re-Analogisierung von Onlineangeboten?
Weihnachten fällt aus! (Nicht Fake-News, nur ein Rückblick in Pandemiezeiten!). Als während der Corona-Pandemie 2020 und nochmals – nicht ganz so drastisch – 2021 deutlich wurde, Weihnachten wird nicht wie gewohnt möglich sein – weder in grosser Runde zuhause, noch mit Gottesdienst – da reagierten die Kirchen auf verschiedene Weisen, online aber auch analog. Eine neue Idee waren DIY- (Do-It-Yourself-) Liturgien und sie scheinen bis jetzt ein neuer Trend zu sein – oder eine neue Beschäftigungsstrategie für Kirchenleitende?
André Stephany
„Suchen Sie sich einen ruhigen Ort, an dem Sie sich wohlfühlen und jetzt gern Weihnachten feiern möchten. Wenn Sie mögen, legen Sie außerdem Kerze und Streichhölzer und – für die vorgeschlagene kleine Bastelaktion – Schere, Stift, Locher und Bindfäden bereit.“[1]
So beginnt das kleine Liturgieheft mit dem Titel Weihnachten zu Hause feiern: Liturgievorschlag für Heiligabend von Prälatin Gabriele Arnold (Stuttgart) u.a. Ein Versuch, den Menschen 2020 eine Hilfe an die Hand zu geben, den traditionellen Gottesdienstbesuch zu Weihnachten nicht einfach ausfallen zu lassen, sondern zu Hause selbst zu feiern.
Die Evangelische Landeskirche in Baden (Ekiba) und die Erzdiözese Freiburg hatten dieselbe Idee und machten daraus ein ökumenisches Projekt. Das Resultat: Anders Weihnachten feiern[2]; ebenso ein kleines Heft. Die Württembergische Kirche machte daraus ein Homepage-Projekt mit Titel Weihnachten zu Hause feiern[3] und so gibt es viele weitere Beispiele aus den Jahren 2020 und 2021, evangelisch und katholisch. Auf der Seite des Liturgischen Instituts findet sich ein Weihnachts-Hausgottesdienst[4], herausgegeben vom Bischöflichen Ordinariat Rottenburg oder Weihnachten feiern[5] auf der Homepage der Schweizer Bischofskonferenz. Viele dieser Angebote wurden ergänzt durch per QR-Code online-abrufbare Musik zum Mitsingen, den Direktlink zur Weihnachtskollekte per QR-Code, Weihnachtspredigten von Landesbischöfen oder anderen Pfarrpersonen und weiteren Onlineressourcen.
Die Download-Zahlen legen einen Erfolg nahe (sofern Download auch gleich Benutzung bedeuten würde). Das ökumenische Projekt Anders Weihnachten Feiern in Baden wurde in seiner Fassung für 2021 vor Weihnachten 20‘000 Mal runtergeladen.[6] Davon inspiriert gab es in vielen Gemeinden auch für die Fastenzeit kleine Fastenzeit-Pakete mit allerlei Infomaterial, Spielen, Andachtsartikeln, etc. für eine corona-konforme Fastenzeit im Familienkreis.
Überrascht? Ich schon! Den (häufig sogenannten) Laiinnen und Laien wird ohne mit der Wimper zu zucken die Rolle der Liturg:innen übertragen. Während in der Breite auf die Zentralisierung von Gottesdiensten online gesetzt wurde, gab es hier den Impuls der Dezentralisierung und des Verlegens von Gottesdiensten in den Familien- oder engen Freundeskreis. Während in vielen Sonntagsgottesdiensten auch während nicht-Pandemie-Zeiten – besonders im reformierten Raum – Woche für Woche eine One-Man/Woman/Person-Show zu beobachten ist, bei der die liturgische Rolle der Gemeinde auf ein Minimum reduziert bleibt,[7] wird denselben Gemeindegliedern plötzlich die volle liturgische Kompetenz zugetraut und auf eine Art auch abverlangt. Von einer „neue[n] Kultur“ spricht Stefan Bonath vom Freiburger Erzbischöflichen Seelsorgeamt.[8]
Persönlich halte ich das für eine grossartige Entwicklung. In der Kürze ergeben sich daraus drei Fragen:
- Warum nicht gleich (oder immer) so?
- Ist da wirklich ein Kulturwechsel im Gang?
- Und zum ergebnisoffenen Weiterdenken: Hat der Digitalisierungsschub gleichzeitig einen (Re-)Analogisierungsschub zur Folge?
- Warum nicht gleich (oder immer) so?
Die Frage, wie sich unsere heutige Gottesdienstpraxis aus einer reformatorischen Bewegung hat entwickeln können, die es als eine ihrer Kernerkenntnisse ansah, dass es keinen ontologischen Unterschied zwischen den Ordinierten und allen anderen Gläubigen gebe und mit der richtigen Schulung jede:r liturgische Aufgaben übernehmen könne (es ist nicht nur der Priester oder Diakon, die das Evangelium lesen dürfen, es sind nicht nur Geweihte, die den Altarraum betreten dürfen, beten darf nicht nur der Priester…), ist mir ein Rätsel. Während es in altkirchlichen Messen häufig wenigstens mehrere Geweihte (und Mitglieder des clerus minor, sowie Ministranten) waren, die den Gottesdienst zelebrierten, ist es heute die eine evangelische Pfarrperson mit Organist:in aus dem Off und im besten Fall einer Person, welche die Lesung hält, aber das ist dann in vielen Gemeinden auch schon das Maximum der denkbaren liturgischen Beteiligung.
Wo lernen Gemeindeglieder liturgisches Gespür, liturgische Fertigkeiten, welche sie dann in Pandemiezeiten oder in Momenten der Einsamkeit für sich fruchtbar nutzen können? Wie erfahren Gemeindeglieder, dass ihre Teilnahme am Gottesdienst für irgendjemanden oder irgendwas eine Rolle spielt, ausser für die Statistik, wenn ihre tragende Rolle zunehmend reduziert und „professionalisiert“ (out-ge-sourced auf Neudeutsch) wird?
Diese Liturgiehefte gehen einen anderen Weg (wie die Gesangbücher ja eigentlich auch, aber um darin die DIY-Liturgien zu finden, braucht es schon mindestens ein abgeschlossenes Vikariat). Die Liturgiehefte rüsten aus auf den ersten Seiten. So steht im Badener Heft ein kleiner Rezeptbucheintrag: „Die Zutaten für Ihre Weihnachtsfeier finden Sie hier“[9], und mit einem Pfeil wird auf eine Liste aus einem Kochbuch verwiesen. Dort stehen die Zutaten: „eine Kerze, Streichhölzer o.Ä., Teelichter (in Anzahl der feiernden Personen oder mehr), Textvorlage für jede Person, Ruhe und Besinnlichkeit, Mut und Spaß am Ausprobieren, bei Bedarf Internetzugang für die Lieder und Lesungen“[10].
Dazu gibt es viele Rubriken, die alle liturgischen Handlungen genau beschreiben und den mystischen Schleier des Nichtwissens um das Wie der Liturgie lüften und das Ganze entmythologisieren ohne es zu entsakralisieren.
Warum nicht gleich (oder immer) so? Warum gibt es nur wenige Gemeinden, in denen Gemeindeglieder Tagzeitengebete anleiten, Friedensgebet erst mitfeiern, dann mitgestalten und schliesslich selbstständig leiten, wie (einmal im Jahr) den Weltgebetstag oder im Kanton Bern den Kirchensonntag? Warum steht am Sonntag meist eine Person – wenn auch hoffentlich nicht im Mittelpunkt, so doch – am Mikrofon?
2. Ist da wirklich ein Kulturwechsel im Gang?
Tja, ist da – ein Jahr nach der Aussage im Interview – wirklich ein „Kulturwechsel“ im Gang? Das ist schwer zu sagen. In der Fastenzeit gab es weitere Do-It-Yourself Aktionen und in verschiedenen Landeskirchen, ganz aktuell in den Berner Kirchen (RefBeJuSo) gibt es Initiativen zu Haus-Gottesdienst-Liturgien. RefBeJuSo hat mehrere Veranstaltungen (die nächste in Thun am 22. Nov.), um Gemeindegliedern Liturgien nahezubringen, einzuüben und mit ihnen zu feiern, die sie auch zuhause oder in kleinen Gemeindegruppen feiern könnten. Einfach feiern nennt sich die Initiative und das gleichnamige Liturgieheft,[11] welches von der Iona-Liturgie und den Tagzeitengebeten inspiriert ist. Es scheint etwas in Gang zu sein. Die Frage ist, ob sich die Begeisterung für Haus-Gottesdienste und die Wiederentdeckung von Luthers Vorliebe für solche Liturgien im Familienkreis nur auf kirchenleitender Ebene verbreitet und festgesetzt hat oder ob da wirklich ein Bedürfnis in den Gemeinden beantwortet wird. Das wäre eine spannende Frage für eine empirische Untersuchung. Bei den Friedensgebeten zu Beginn des Kriegs in der Ukraine – die zum Teil noch bestehen und fortgesetzt werden – schien sich ein Bedürfnis für kleine Liturgien, unkomplizierte und reflektierende Feiern Bahn zu brechen. Ob Tagzeitengebete, Nachtgebete, etc. darüber hinaus (besonders für den Hausgebrauch) nachgefragt sind…
Ich wünsche mir einen Kulturwechsel, aber ob er gerade stattfindet (geschweige denn stattgefunden hat), da bin ich nicht sicher, wage es sogar zu bezweifeln.
3. DIY-Liturgien: Re-Analogisierung von Onlineangeboten?
Allein die Beobachtung, dass während einer Zeit, in der etablierte Kirchen plötzlich das Internet als Sendegebiet ihrer Botschaft entdeckten (mit reichlich Verzögerung möchte man anmerken) und viele Ressourcen in die Erschliessung dieser terra incognita investierten, auch diese analogen Liturgiehefte für Gottesdienste im Kreis der Familie oder unter Freunden entstanden sind, ist bemerkenswert und interessant. Ganz klar machen sich diese Hefte „Neuentdeckungen“ der digitalen Welt zunutze und bieten sie als Ressourcen auf (QR-Code zur Liedbegleitung, QR-Code zur Weihnachtspredigt und Kollekte, etc.), doch sind sie – zumindest in ihrer Selbstbeschreibung – für den Gebrauch Zuhause allein oder mit anderen gedacht. Eine Gegenreaktion zum (beinahe) rein digitalen (gemeinschaftlichem) Glaubensleben während der Corona-Zeit? Ein Angebot an ein anderes Milieu? Eine Idee, die nur im Moment funktionierte (zumindest den Download-Zahlen nach zu urteilen) und jetzt in der post-pandemischen Zeit wieder in der Schublade versinken sollte oder erste Zeichen eines Kulturwandels zu mehr liturgischer Eigenebestimmung? Wäre es was, wenn Pfarrpersonen liturgisch Interessierte ausrüsten würden und sie zunehmend in die aktive Gestaltung von Liturgien einbeziehen würden? Wäre es selbst im Fall, dass Interesse und liturgische Kompetenz vorhanden wären, heutzutage eine Frage der Scham, sich alleine oder im Familienkreis hinzusetzen und einen Gottesdienst zu feiern?[12] Ich freue mich auf Kommentare und Einschätzungen über die Kommentarfunktion zu diesem Blog. Gerne spiele ich den Ball auch zu meiner Kollegin Miriam Löhr, die sich besonders mit der Digitalisierung in der Kirche beschäftigt.
Und zuletzt die hoffnungsvolle Aussage: Weihnachten ist nicht ausgefallen und wird es auch dieses Jahr nicht, egal, welches Babylon gerade an den Grundfesten der Erde rüttelt. Und da in den Supermärkten auch schon länger das Weihnachtsgebäck steht, schon jetzt: ein frohes und gesegnetes Fest; analog, digital, in Gemeinschaft oder mit Do-It-Yourself-Liturgie.
[1] Viele der Websites sind nicht mehr aufgeschalten, doch dieser Link ist noch aktuell: http://weihnachten-zuhause.de/wp-content/uploads/2020/11/WEB_Liturgie_Weihnachten_zu_Hause.pdf; 27.10.2022.
[2] Es gibt keinen direkten Download-Link mehr, es gab diesen jedoch über diese Seite: https://www.ekiba.de/detail/nachricht-seite/id/28743-anders-weihnachten-feiern/; 27.10.2022.
[3] http://weihnachten-zuhause.de/; 27.10.2022.
[4] https://liturgie.ch/images/liturgie/pdf/Hausgottesdienst_Weihnachten_1.pdf; 27.10.2022.
[5] https://www.bischoefe.ch/weihnachten-feiern-2020/; 27.10.2022.
[6] Rehm, Sigrun: Sehnsucht nach Gemeinschaft. Badische Zeitung vom Mittwoch, 22. Dezember, Thema des Tages.
[7] Siehe dazu: Plüss, David: Allgemeines Priestertum und Amt. In: Gottesdienst der reformierten Kirche, Einführung und Perspektiven, hrsg. v. Ders. u.a., [Praktische Theologie im reformierten Kontext Bd. 15], Zürich 2017, 145-161, hier 145, wo Plüss sich mit Fulbert Steffensky’s These auseinandersetzt, der reformierte Gottesdienst sei der klerikalste Gottesdienst, den er kenne.
[8] Vgl. Rehm, Sehnsucht nach Gemeinschaft.
[9] Ev. Landeskirche in Baden / Erzdiözese Freiburg (Hgg.): Anders Weihnachten Feiern. Heiligabend 2021 für Zuhause oder sonstwo – allein oder mit anderen, Stuttgart 2018, 2. Leider ist der Link nicht mehr aufgeschalten: https://www.ebfr.de/detail/nachricht/id/153367-anders-weihnachten-feiern-auch-2021/?cb-id=12103291; [23.12.2021]. Auch bei der Ekiba ist der Downloadlink abgeschalten.
[10] Ebd.
[11] https://www.gottesdienst.refbejuso.ch/fileadmin/user_upload/Downloads/Broschueren/Broschu__re_Einfach_feiern_2021.pdf; [27.10.2022].
[12] Eine Idee meiner Kollegin Miriam Löhr. Im Gespräch fiel die Parallele auf zur „Scham“, die manche Menschen empfinden, die nicht regelmässige Kirchgänger:innen sind, wenn sie zu Gottesdiensten in der Kirche gehen und sich im liturgischen Geschehen fremd fühlen. Würde mehr „liturgisches“ Training durch mehr Übertragung von Verantwortung auch da helfen?
André Stephany arbeitet als Doktorand und Assistent am Lehrstuhl für Praktische Theologie in Bern. In seiner Dissertation beschäftigt er sich mit der ehrenamtlichen Verkündiung in der Schweiz.
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