Multiperspektivische Kirchenräume

Der Beitrag schlägt vor, den Begriff der „Flexiblen Kirchenräume“ zu ergänzen durch den der „Multiperspektivischen Kirchenräume“. Multiperspektivische Kirchenräume im Dienste multiperspektivischer Gottesdienste, eines multiperspektivischen kirchlichen Lebens, einer multiperspektivischen Nutzung.

Johannes Stückelberger

Der vierte Schweizer Kirchenbautag 2021 machte unter dem Titel „Flexible Kirchenräume“ auf die aktuelle Tendenz aufmerksam, anlässlich von Sanierungen und Renovationen die Kirchenräume auf die Weise neuzugestalten, dass sie flexibler genutzt werden können. Die Kirchenräume müssen neue Anforderungen erfüllen. In ihnen finden nicht mehr nur die klassischen Predigt- und Kasualgottesdienste statt, es gibt eine Vielfalt weiterer Feierformen wie Familiengottesdienste, Feiern im kleinen Kreis, interreligiöse Begegnungen, Jodlermessen, Bildmeditationen und vieles mehr. Dazu kommen, was es zwar immer schon gab, heute aber vermehrt, Nutzungen für nichtkirchliche Veranstaltungen wie Konzerte, Lesungen, Ausstellungen, Vorträge. Und die Zeit ist da, wo Kirchgemeinden ihre Räume mit anderen Partnern zusammennutzen, wo sie Teile temporär oder auch langfristig vermieten oder gar im Baurecht abgeben.

Die Erweiterung der Nutzungen verlangt eine Flexibilisierung der Räume und ihrer Ausstattung. Davon betroffen sind besonders die Sitzgelegenheiten, sprich, die traditionellen Kirchenbänke, die heute häufig ganz oder teilweise durch verschiebbare Kurzbänke oder Stühle ersetzt werden. Oft geht dies einher mit einer neuen Anordnung der Sitzgelegenheiten sowie einer Umplatzierung der liturgischen Orte. Im Zuge der Neugestaltungen werden meistens auch die Beleuchtung, das Beleuchtungskonzept und die Tonanlage erneuert, oft auch die Heizung. Eine zentrale Steuerung ermöglicht eine vereinfachte Bedienung von Heizung, Glocken, Licht, Audioanlage und Schliesssystem. Dazu kommt der Bedarf nach Stauraum, nach einer Teeküche sowie sanitären Anlagen, und oft noch nach mehr. Auf der Webseite des Schweizer Kirchenbautags finden sich zwanzig Beispiele von aktuellen Neugestaltungen von evangelisch-reformierten, römisch-katholischen und christkatholischen Kirchen dokumentiert. Weitere zwölf Beispiele von Neugestaltungen von reformierten Kirchen im Gebiet des Kantons Bern können auf der Webseite der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn eingesehen werden (Links am Schluss des Beitrags). Die Massnahmen der Neugestaltung sind bei jeder Kirche mit einem Text beschrieben und mit zahlreichen Bildern dokumentiert.

In seinem anlässlich des Schweizer Kirchenbautags 2021 gehaltenen Vortrag zum Thema „Flexibilität als Aufgabe der Kirchenleitung“ hat David Plüss auf die Flexibilität als zentralem Kriterium aktueller Kirchenentwicklungsmodelle (Stichwort „Liquid Church“) hingewiesen. „In einer Liquid Church- oder Ereignis-Ekklesiologie“, so Plüss, „werden einige Grenzen durchlässig, Übergänge fliessend, Ränder unsauber. So die Grenze zwischen sakral und profan, zwischen Kirche und Welt, zwischen innen und aussen, zwischen gültiger Liturgie im Singular und den vielfältigen Liturgien oder rituellen Formen auf der Schwelle oder mitten im Alltag.“ Die Kirchenräume sind von dieser Dynamisierung und Verflüssigung unmittelbar betroffen. Plüss nennt vier Aspekte und Dynamiken der Flexibilisierung der Kirchenräume: die plurale Nutzung, die Veränderbarkeit, offene Grenzen sowie Kooperationen.

Seit dem letzten Kirchenbautag sind anderthalb Jahre vergangen, und ich frage mich inzwischen, ob der von uns damals vorgeschlagene Begriff der „flexiblen Kirchenräume“ nicht durch einen anderen ersetzt oder zumindest ergänzt werden müsste: nämlich durch den der „multiperspektivischen Kirchenräume“. Warum dieser Vorschlag? Flexibilität benennt das Potenzial eines Raumes, für unterschiedliche Nutzungen anpassungsfähig zu sein, beweglich, offen. Wer nun aber in diesem Raum einem bestimmten Anlass beiwohnt, nimmt den Raum nicht primär als flexiblen Raum wahr, sondern in dem für den Anlass gewählten Zustand, als statischen Raum. Im seltensten Fall wird man während eines Anlasses beispielsweise die Sitzordnung verändern, das heisst, den Raum in dieser Weise als flexiblen Raum nutzen. Die Flexibilität ist nicht das Ziel, sondern das Mittel zum Ziel. Das Ziel ist, für den jeweiligen Anlass die optimalen Raumbedingungen zu schaffen bezüglich Bestuhlung, Beleuchtung, Akustik etc.

Für dieses Ziel möchte ich den Begriff der „Multiperspektivität“ vorschlagen. Der Vorteil dieses Begriffs besteht darin, dass er nicht nur das Potenzial eines Raumes für unterschiedliche Nutzungen benennt, sondern dass er dieses Potential mit der Möglichkeit in Verbindung bringt, den Raum unterschiedlich zu orientieren, unterschiedliche Perspektiven zu nutzen. Perspektivität ist ein räumlicher Begriff, der die für die jeweilige Nutzung gewählte Einrichtung und Ausrichtung des Raumes benennt. Die Flexibilität eines Raumes ist ja nicht Selbstzweck, sie dient vielmehr unterschiedlichen Nutzungen, sie ermöglicht Anlässe mit unterschiedlichen Perspektiven.

Der Perspektiv-Begriff ist mehr als ein räumlicher Begriff zur Bezeichnung einer Blickrichtung. Mit ihm verbindet sich auch die Vorstellung einer inhaltlichen Ausrichtung, der Orientierung an einem Ziel, der Fokussierung. Wer an einem Sonntagmorgengottesdienst teilnimmt, hat anderes im Blick als wer am Samstagabend einem Konzert beiwohnt. Eine Podiumsdiskussion im Kirchenraumraum ist auf anderes fokussiert als das Taizé-Gebet. Zu überlegen wäre, ob der Begriff der „Multiperspektivität“, übertragen auf die Kirche, auch eine Alternative zu dem der „Liquid Church“ sein könnte. Liquid Church benennt eine Kirche, die sich auf die Verflüssigung und Dynamisierung der Gegenwart einlässt, die sich selbst dynamisieren lässt. Doch ist die Dynamisierung wirklich das, was heute passiert? Müssen wir nicht eher von Diversifizierung oder Diversifikation sprechen im Sinne eines Nebeneinanders verschiedener Auffassungen von Kirche, einer Auffächerung der Praktiken kirchlichen Lebens? Das Phänomen ist nicht neu, doch findet heute zweifelsohne eine Multiplikation der Perspektiven auf Glauben und Kirche statt.

Das dem Beitrag voranstehende Bild zeigt den Innenraum der reformierten Kirche in Wabern bei Bern, deren Innenraum 2004 neugestaltet wurde. Die Aufnahme zeigt den Raum diagonal mit Blick in Richtung Eingang. Die alten Bänke, die ursprünglich alle zum Chor hin ausgerichtet waren, sind ersetzt durch Kurzbänke, die – in der Grundausstattung – in einem Winkel aufgestellt sind, so dass sich in der Mitte ein leerer Raum bildet, der auf den verbleibenden zwei Seiten durch die neue Orgel und das Lesepult sowie die Osterkerze eingefasst wird. Der auf dem Bild sichtbare Abendmahlstisch steht nur bei der Feier des Abendmahls in dieser Mitte. Das Bild zeigt eine ungewohnte Perspektive, die jedoch derjenigen entspricht, die sich den Besucherinnen und Besuchern bietet, die in den Bänken links im Vordergrund Platz genommen haben. Die Bänke lassen sich leicht verschieben und können bei Bedarf (etwa für grosse Abdankungen oder Konzerte) in Richtung Chor ausgerichtet und durch Stühle ergänzt werden. Oder man kann sie an die Wände schieben, um Freiraum zu bekommen. Unzählige weitere Anordnungen sind möglich. Viele Kirchen bieten inzwischen diese Flexibilität zur Multiperspektivität. Empfohlen ist dabei eine Grundausstattung, die immer wieder hergestellt wird, damit die Kirche bei Nichtgebrauch als Gottesdienstraum erkennbar bleibt. In Wabern ist die Grundausstattung die auf dem Bild sichtbare. Zu beobachten ist, dass manche Gemeinden die Möglichkeit der Multiperspektivität wenig nutzen, was zum einen damit zusammenhängt, dass die Variabilität der Anlässe dann doch nicht so gross ist, zum andern damit, dass man gerne am Gewohnten und Herkömmlichen festhält.

Eine gute Sehschule für die Multiperspektivität der Kirchenräume sind Kirchenbilder, das heisst, gemalte oder fotografierte Darstellungen von Kirchen. Als Kunstwerke sind diese Darstellungen immer auch Interpretationen der Kirchen, und zwar nicht nur der gebauten Architektur, sondern auch dessen, wofür diese Räume stehen, Interpretationen des den Künstlerinnen und Künstlern eigenen Gottesbildes bzw. ihres Verständnisses von Kirche. Mit der Kirche als Bildthema haben sich unzählige Künstlerinnen und Künstler beschäftigt, vom Mittelalter über das holländische 17. Jahrhundert, die Romantik, den Realismus, den Impressionismus, die Abstraktion bis hin zur zeitgenössischen Fotografie. Jede Künstlerin, jeder Künstler arbeitet andere Aspekte von Kirche heraus, hat einen anderen Blick auf das Thema, wobei dies nicht nur die gewählte räumliche Perspektive betrifft, sondern auch das Licht, die Farben, die Atmosphäre, was in den Kirchen stattfindet und vieles mehr. Es begeistert mich immer wieder, was Kirchen alles zu bieten haben, wenn man sie mit den Augen von Künstlerinnen und Künstlern betrachtet. Aber natürlich auch, wenn man sich real in ihnen aufhält, allein oder anlässlich der einen oder andern Veranstaltung. Die Multiperspektivität der Kirchenräume ist enorm.

 

Bild: Reformierte Kirche in Wabern bei Bern, 1946 – 1948, Neugestaltung durch Patrick Thurston, Bern, 2004 (Foto: Nora Meier)

Link zur „Dokumentation Flexible Kirchenräume“ auf der Webseite des Schweizer Kirchenbautags.

Link zur Publikation „Aktuelle Neugestaltungen von Kirchenräumen. Dokumentation von zwölf Beispielen im Gebiet der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn“.

Dem Thema „Kirchenbilder“ ist eine Tagung am Freitag, 24. November 2023, 9-17 Uhr, an der Universität Bern gewidmet. Organisiert wird die Tagung von der Theologischen Fakultät der Universität Bern. Das Programm wird ca. Anfang August auf der Webseite der Theologischen Fakultät aufgeschaltet.

 

Johannes Stückelberger ist Dozent für Religions- und Kirchenästhetik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern und Titularprofessor für Neuere Kunstgeschichte an der Universität Basel


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Eine Antwort zu «Multiperspektivische Kirchenräume»

  1. Avatar von Stückelberger
    Stückelberger

    Mein Beitrag hat den Kirchenraum im Fokus, der in unterschiedliche Richtungen bespielt wird. Darüber hinaus interessiert mich die Frage, ob der Begriff der Multiperspektivität auch taugt als Begriff für den Gottesdienst oder das kirchliche Leben. Eine multiperspektivische Kirche scheint mir etwas anderes zu sein als eine flexible Kirche oder eine liquid church. Der Begriff «multiperspektiv» wird gemeinhin als Bezeichnung für die Methode benutzt, einen Gegenstand, ein Thema aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Ich verwende ihn anders. Mir geht es nicht um einen multiperspektivischen Blick auf die Kirche oder den Gottesdienst, sondern um ein multiperspektivisches Selbstverständnis von Kirche und Gottesdienst. Ich schaue nicht aus verschiedenen Richtungen auf Gottesdienst und Kirche, vielmehr schaue ich von Gottesdienst und Kirche aus in verschiedene Richtungen. Was mir am Begriff der Perspektivität besser gefällt als an dem der Liquidität ist die Fokussierung. Ist meine Anregung irrelevant? Übersehe ich was?

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