Ein historischer Gottesdienst
Am 01.10.2023 feierte die Französische Gemeinde Bern 400 Jahre französischsprachige Gottesdienste in ihrer Kirche. Zu diesem Anlass wurde ein besonderer «Culte historique» gestaltet, in dem der Pfarrer eine Original-Predigt aus dem Jahr 1688 hielt – in Puffärmel-Talar und mit Perücke wie im 17. Jahrhundert. Ich habe den Gottesdienst besucht und wollte wissen: Wie gelingt dieses Unterfangen zwischen theatraler Aufführung und liturgischem Vollzug, der mit den Zeiten spielt?
Miriam Löhr
Am Eingang der Kirche höre ich vertraute Klänge – Lieder des Genfer Psalters, vierstimmig gesungen von der stehenden Gemeinde, begleitet von einem Quartett historischer Blasinstrumente. Die über dem Chorraum thronende Orgel schweigt im gesamten Gottesdienst, oder vielmehr: Sie scheint das Geschehen zu ihren Füssen zu beobachten. Ich setze mich hinten in die Bank und staune über das umfangreiche Programmheft mit diversen Genfer Psalter-Vertonungen, zu dem zusätzlich eine französische Transkription der originalen Predigt vom 25. März 1688 vorliegt – ganze 24 Seiten. Nach dem ersten Gesangsblock, sorgfältig dirigiert und begleitet von den Musikern, setzt sich die zahlreich anwesende Gemeinde.
Eine Gestalt betritt den Raum, oder vielmehr die Bühne – in einem seltsamen Talar, und vor allem: mit einer Perücke in der Mode des 17. Jahrhunderts. Ein leises Lachen geht durch die Reihen. Auch die Gestalt, der Pfarrer der Gemeinde, scheint schmunzeln zu müssen. Langsam schreitet er nach vorn. Nach dem Eingangsvotum steigt er auf die Kanzel und beginnt zu sprechen – und wird es weit über die heute gewohnten zwanzig Minuten hinaus tun. Die Predigt, sprachlich nur minimal modernisiert, traktiert 1 Kor 9,25[1] und kreist immer wieder um die Botschaft: « … si à présent vous portez une Couronne d`épines, vous porterez un jour la Couronne de Gloire. »[2] Diese Vertröstung aufs Jenseits scheint heute höchst untröstlich. Das informierende Textheft und Gespräche in der Kaffeepause, die die Predigt kurz unterbricht, erhellen jedoch den Hintergrund: im September 1687 ertranken 111 geflüchtete Hugenottinnen und Hugenotten in der Aare. Die Predigt ein halbes Jahr später nimmt hierauf Bezug und spricht den in Bern aufgenommenen französischen Protestant*innen in dieser Situation der Verzweiflung, Unsicherheit und Bedrohung Trost zu und ermutigt sie zum Durchhalten. Nach der Pause folgt das letzte Drittel der Predigt. Keine mahnende Sanduhr, sondern das stillschweigende Einverständnis aller Anwesenden, die gottesdienstliche Performance in ihrer gesamten Länge von gut drei Stunden gemeinsam zu tragen, legitimiert das Geschehen. Nach der Predigt folgen Fürbitten, das Unservater in einer Version, wie es damals gesprochen wurde, der Segen und wiederum stehend vierstimmige Gesänge des Genfer Psalters. Nach fast dreieinhalb Stunden ist der Gottesdienst zu Ende.
Aus liturgischer Sicht sind mir vor allem zwei Dinge aufgefallen. Zum einen erschien die stehend vierstimmig singende Gemeinde gut reformiert als souveräne Trägerin der Liturgie – trotz oder wegen der theatralen Gestaltung. Die Botschaft der Predigt erschloss sich in ihrem historischen Kontext, so dass die im Vergleich zu heute grossen Unterschiede der Theologie, die sich in Jenseitsvertröstung und konfessorischer Abgrenzung zeigten, nachvollziehbar wurden. Zum anderen erschienen mir Bildwelt und Gestimmtheit des Gottesdienstes überraschend vertraut: die Lieder, die sprachlich eng an der Bibel ausgerichtete Predigt, die (wenigen) weiteren Elemente wie Fürbitten, Unservater und Segen zeichneten ein Gesamtbild, das trotz der heute anders gelagerten homiletischen Grosswetterlage mehr Verbindungen als historische Trennungen aufwies. Bei aller theologischen und modischen Differenz vermittelte der Gottesdienst ein liturgisch grundiertes Gefühl von «Heimat in der Zeit», das auf dem kritisch reflektierenden Wissen um die eigenen Liturgietraditionen beruht.
So blieb es nach meinem Eindruck nicht bei der Aufführung eines historischen Geschehens. Vielmehr schlug der gottesdienstliche Vollzug einen Bogen in die Zeit.
Miriam Löhr ist Postdoc am Institut für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät Bern.
[1] Wettkämpfer aber verzichten auf alles, jene, um einen vergänglichen Kranz zu erlangen, wir dagegen einen unvergänglichen. (Zürcher Bibelübersetzung).
[2] Wenn ihr heute eine Dornenkrone tragt, werdet ihr eines Tages die Krone der Ehre tragen.
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