Predigen online – Ein Schreibgespräch, Nr. 3
David Plüss widerspricht der Auffassung, dass die Predigt erst durch die digitale Form, das Online-Gehen, ganz zu sich kommt. Um ihre Potentiale zu entfalten, braucht die Predigt die Einbettung in die gottesdienstliche Liturgie.
Die Frage, ob «die Predigt erst durch die Digitalisierung, das ‹Online Gehen›, wirklich frei wird und sich so erst richtig als Verkündigung entfalten kann», provoziert mich zur Gegenrede. Wenn ich Fragen und Erwägungen von Kirsten Jäger richtig lese, sieht sie im Online-Gehen der Predigt tatsächlich mehr Chancen als Risiken. Zwar wägt sie im Folgenden beide gegeneinander ab. Aber die Vorzüge der Online-Predigt überwiegen. Zunächst und grundsätzlich gefällt mir die These. Sie ermöglicht es, Digitalisierung religiöser Kommunikation nicht larmoyant als Verlust- und Verfallsgeschichte zu beklagen, sondern aufmerksam und neugierig auszuleuchten und auszuloten. Nicht als distanziert Kartographierende aus dem Orbit, sondern als Teilnehmende und Kommunizierende, als Rezipierende und Agierende im virtuellen Raum. Als Menschen, die unter Corona-Bedingungen definitiv im digitalen Zeitalter angekommen sind, wenn auch etwas abrupt und unfreiwillig. Und dabei die Faszinationskraft digitaler Kommunikation entdeckt haben und immer weiter entdecken: Die Möglichkeiten kurzzeitig anberaumter Besprechungen mit Kolleg*innen von weit her, die inhaltliche Dichte von Online-Konferenzen oder die intensive Beteiligung von Studierenden in einem Online-Seminar. Das alles wussten und kannten wir vorher nicht. Der digitale Raum war weitgehend verstellt und vernagelt mit Vorurteilen. Gilt dies auch für die Predigt? Ich meine: ja, dies gilt auch für die Predigt. Zwar gibt es die Online-Predigt nicht erst seit der Pandemie. Aber auch sie war verbarrikadiert mit vielfältigen Vorurteilen: zu propagandistisch, zu telegen, zu oberflächlich. Und eben: nackt, abstrahiert vom liturgischen Setting, zu dem sie historisch und theologisch wesentlich gehört. Erst durch das Hören und Erleben von Online-Predigten begann ich deren Potentiale zu erahnen.
Trotzdem widerspreche ich der These, wonach die vom liturgischen Rahmen befreite Predigt gleichsam die authentische Predigt darstellt, die zu sich selber gekommen ist oder immer mehr zu sich selber kommt. Die Predigt ist, so halte ich dagegen, als Redegattung nur plausibel im Rahmen einer Liturgie, sei diese reformiert-rudimentär oder hochkirchlich-barock. Die Predigt unterbricht das gottesdienstliche Ritual und ist zugleich selbst ritualisiert. Sie stellt den rituellen Höhepunkt des protestantischen Predigtgottesdienstes dar und zeichnet sich zugleich dadurch aus, dass sie sich um die rituelle Fremdbestimmung foutiert und sich alle Freiheit der engagierten und authentischen Rede nimmt, die je und je neu und anders und auf die Situation bezogen erfolgt. Von dieser rituellen Einbettung und Spannung lebt die Predigt. Sie trägt die Predigt, gibt ihr ein Kleid, einen Schutz- und Resonanzraum. Die Gesänge und Gebete entlasten die Predigt. In ihr muss nicht alles gesagt werden. Die Predigerin kann sich mutig aus dem Fenster lehnen und einen Bibeltext gegen den Strich bürsten, einseitig sein und pointiert, denn es folgen noch Fürbitten und der Segen, die die Sache wieder ins Lot bringen oder ins rechte Licht rücken. Diese Rahmung gibt der liturgisch gerahmten Predigt grosse Freiheit, die es allerdings auch couragiert zu nutzen gilt.
Die Freiheit der Online-Predigt scheint prima vista noch grösser zu sein. Und sie ist es auch. Aber die Freiheit ist durch einen hohen Preis erkauft. Die Abstraktion vom liturgischen Rahmen bürdet der Predigt die Last auf, die Rede-Gattung Predigt je und je neu zu definieren, zu strukturieren und zu plausibilisieren. Was der traditionellen Predigt durch das Gottesdienst-Ritual abgenommen ist, muss die Online-Predigt performativ je und je herstellen. Und das ist nicht wenig. Die Sachlage ist vergleichbar mit Begrüssungsritualen. Diese funktionieren, weil und sofern sie vertraut sind. Es gibt kulturell codierte Repertoires etablierter Begrüssungsrituale, die situativ angemessen anzuwenden sind. Fehlen diese oder sind sie unvertraut – was in interkulturellen Begegnungen zuverlässig vorkommt –, provoziert dies intensive Co-Konstruktions- und Aushandlungsprozesse. Die Online-Predigt ist in Bezug auf ihr rituelles Setting nackt und folglich schambewehrt. Sie muss sich selber als spezifische Rede-Gattung, die sich von Formen alltäglicher Kommunikation mehr oder weniger deutlich unterscheidet, in Szene setzen und plausibilisieren.
Ich möchte noch einen anderen Faden aufnehmen. Kirsten Jäger schreibt: «Predigt online richtet sich prinzipiell an Alle, unabhängig von Religion, Alter, Geschlecht und Milieu». Und es stimmt: die Online-Predigt hat eine schier unbegrenzte und dadurch etwas unheimliche Öffentlichkeit. Andererseits stellen Podcast-Expert*innen unisono fest, dass ein Podcast nur dann ‹funktioniert›, wenn er auf eine klar begrenzte Zielgruppe fokussiert ist: rhetorisch, ästhetisch, inhaltlich. Darauf weisen Podcast-Analysen mit Fakten zu Anzahl, Dauer, Alter und Geschlecht der Zuschauer*innen hin. Werden dadurch die Verhältnisse nicht umgedreht: Während sich die klassische Kanzelrede programmatisch «an alle Völker» (Mt 28, 19) und faktisch an eine übersichtliche Gruppe richtet, soll die Online-Predigt einen hohen Zielgruppenbezug aufweisen, obwohl sie von «allen Völkern» gefunden und gehört werden kann. Ich bin gespannt, was Kirsten Jäger zu dieser Analyse sagt und was ihres Erachtens daraus folgt.
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Prof. Dr. David Plüss, lehrt Homiletik, Liturgik und Kirchentheorie an der Theologischen Fakultät der Universität Bern.
Grafik: Valentin Plüss
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