Die Kosten der (analogen) Predigt

 

Predigen online – Ein Schreibgespräch, Nr. 4

Wie schutzlos ist die Predigt im Netz? Steht sie wirklich so isoliert da wie im Beitrag von David Plüss behauptet? Und: Wie hoch- oder niederschwellig sind gottesdienstliche Predigt und digitale Predigt-Formate im Vergleich?

Kirsten Jäger

Ich finde den Gedanken von David Plüss höchst interessant: Kommt die Predigt unbefangener zu sich selbst, wenn sie durch einen rituellen Rahmen – ein «rituelles Kleid» – geschützt ist? Oder kommt, wie ich behauptet habe, die Verkündigung in besonderem Mass zu sich selbst durch Predigten und predigtähnliche Beiträge, die sich im Internet exponieren?

Der Grundsatz, dass die Rahmung entscheidend dazu beiträgt, wie viel der Prediger*die Predigerin oder eben die Sprecherin eines (Predigt-)Podcasts wagen kann, leuchtet mir ein. Und wenn ich es mir recht überlege bzw. diverse Podcasts und Videos sichte, ist «Predigt» im Netz vielleicht doch nicht so unbekleidet: Da ist das Label eines Podcasts. Da ist ein Teaser in Text- oder Bildform. Da ist das Intro, der Erkennungsjingle mit einigen einleitenden Worten, der Abschluss (Outro), die immer (ungefähr) gleiche Länge. Da ist ein Logo, da sind Symbole, wiedererkennbare Orte oder ein Studio mit vertrauter Möblierung und – nicht zuletzt – Personen bzw. Sprecher*innen, die einem beim regelmässigen Hören immer familiärer werden.

Die Online-Beiträge kommunizieren im Vergleich zur ’Kanzelrede’ zwar direkter (Blick in die Kamera!), schneller und, trotz des Mediums, unmittelbarer. Doch auch sie stehen nicht völlig frei in der Landschaft, sondern in einem Kontext, der durch die genannten Mittel – Text, Bild, Musik … – sichtbar gemacht wird. Das ist sinnvoll, weil im Internet laufend Beiträge aus dem Kontext gerissen und in einen neuen gestellt werden; sie werden zerstückelt und manchmal auf unangenehme Weise neu zusammengesetzt. Dieses Risiko gehört zwar zum ’Spiel’, aber durch Charakteristiken wie Studio, Logo, Hintergrundbild, Kameraführung usw. (vgl. z. B. SRF Wort zum Sonntag) lässt sich der ursprüngliche Kontext zumindest leichter rekonstruieren.

Ein bisschen freier in der Landschaft stehen die digitalen Beiträge aber schon, wenn man sie mit der klassischen Predigt vergleicht. Gottesdienstliche Predigt ist relativ ’hochschwellig’. Die die Predigt umgebende Liturgie, der Gottesdienst insgesamt, die Kirchenmauern, in welchen er sich abspielt: dies alles kann nicht nur als Schutz, sondern auch als Bollwerk empfunden werden. Um überhaupt an die Predigt heranzukommen, muss man einige Voraussetzungen erfüllen: Man muss Orgelmusik mögen, sich im Kirchenraum wohlfühlen, Kirchenlieder (mit ihren mitunter sonderbaren Texten und Melodien) mitsingen können oder sie wenigstens gerne hören. Man muss etwas mit liturgischen Formeln, gottesdiensttypischen Formulierungen und eventuell auch mit biblischen Texten anfangen können. Die Predigt, die hier stattfindet, ist als innerkirchliche oder zumindest innerchristliche Selbstverständigung konzipiert. Als Selbstvergewisserung für diejenigen, die schon viel mitbringen an Einverständnis und einer bestimmten Auffassung von Glauben.

Natürlich ist das legitim. Aber was hat diese Art der Predigt gemein mit z. B. den Reden der biblischen Propheten oder mit der Bergpredigt Jesu? Ganz gleich, ob letztere nun auf einem Berg oder auf freiem Feld (und ob sie historisch überhaupt in der überlieferten Gestalt) gehalten wurde: Sind ihr die digitalen Beiträge nicht ähnlicher als die analoge Form der Predigt?

Predigt als Gattung verlangt womöglich den beschriebenen, für Aussenstehende hochschwelligen Rahmen, um ihre gattungsspezifischen Qualitäten entfalten zu können: auch die von David Plüss angesprochene Freiheit. Verkündigung, online wie offline, darf und sollte jedoch vielgestaltiger sein und die unterschiedlichsten Zielgruppen ansprechen. Ich bin immer noch der Meinung, dass die online Verkündigung hier einen Vorteil hat. Innerhalb eines Formats sollte sie freilich schon auf ein definiertes Zielpublikum ausgerichtet sein. Sie kann sich aber sehr unterschiedlicher Formate bedienen. Und sie ist – idealerweise – frei verfügbar, gratis zugänglich. Gratis («gratiis») heisst in diesem Fall: ohne dass der Hörer*die Hörerin vorgängig irgendeine Meinung teilen muss oder irgendeine Zugehörigkeit mitbringen muss. Was naturgemäss vorhanden sein muss, ist ein Interesse an bestimmten Themen und Inhalten und: Offenheit. Das genügt.

Diese Niederschwelligkeit und (ebenfalls) Offenheit der Verkündigung scheint mir die Voraussetzung dafür zu sein, dass Verkündigung gelingen, die Botschaft «lebensdienlich» werden kann, wie Lucie Panzer sagt.[1] So verstandene Verkündigung ist ein Dialog auf Augenhöhe,[2] in dem das Hören, Lernen, Sich-berühren-lassen eine ebenso grosse Rolle spielt wie das Mitteilen von Worten, die – möglicherweise! – berühren, bewegen, überzeugen.

Könnte die gottesdienstliche Predigt diesbezüglich von den Online-Formen der Verkündigung lernen?

Anspruchsvoll ist die geforderte Niederschwelligkeit für beide. Doch Predigt im Gottesdienst hat es, wie mir scheint, aus den oben genannten Gründen schwerer. Wie David Plüss sagt: Das Prinzip lautet zwar: «für alle Völker», aber faktisch ist die Zielgruppe der Kanzel-Predigt recht klein. Liessen sich da nicht ein paar Schwellen abbauen, die heute gar nicht mehr nötig wären? Könnte die Offenheit vieler Prediger*innen, die in den Gemeinden tätig sind, nicht sehr viel mehr Menschen ansprechen als das bisher der Fall war? Hier könnte die – zweifellos belastende – gegenwärtige Situation, die ein vermehrtes Nutzen der Online-Kanäle verlangt (zu Pandemie-Zeiten), aber auch dazu ermutigt (über die Pandemie-Zeit hinaus), eine spannende und verheissungsvolle Bewegung angestossen haben.


[1] Lucie Panzer, Erfahrungsnah und lebensdienlich. Religiöse Rede im Kontext des Rundfunks, in: PrTh 52(2017), H. 1, S. 14–19, 19.

[2] Vgl. Angela Rinn, Das Fragment kultivieren. Interdisziplinäre Anregungen für eine Homiletik der Kurzen Form, in: PrTh 52(2017), H. 1, S. 20–24, 23.

Kirsten Jäger arbeitet als Medienberaterin (Schwerpunkt Film) bei Relimedia in Zürich und forscht in der Praktischen Theologie (Kompetenzzentrum Liturgik, Bern) zu Themen der digitalen Religion/online Verkündigung.


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Kommentare

2 Antworten zu «Die Kosten der (analogen) Predigt»

  1. Avatar von Johannes Stückelberger
    Johannes Stückelberger

    Mit Gewinn folge ich der Debatte von Kirsten Jäger und David Plüss. Unbehagen bereiten mir die Metaphern der «nackten Predigt» und des «rituellen Kleides». Sie implizieren, dass die Predigt das Eigentliche (der Körper) sei, die Liturgie lediglich das Hemd (die Hülle). Statt die Liturgie nur als Rahmen der Predigt zu diskutieren, scheint mir gewinnbringender, ihr eine Eigenständigkeit neben der Predigt zuzugestehen und umgekehrt der Predigt eine Eigenständigkeit neben der Liturgie. Insofern sehe ich kein Problem, dass die Predigt im Online-Format auch ohne Liturgie auskommen kann. In einem «klassischen» Gottesdienst mit beiden nehmen diese natürlich idealerweise aufeinander Bezug. Aber bitte nicht wie Körper und Hemd, sondern als selbständige Gattungen auf Augenhöhe. Als Spezialist für Fragen betreffend Raum und Bild als Elementen des Gottesdienstes möchte ich auch diese nicht lediglich als Hemd, Hülle oder Medium, im Dienste der Predigt stehend, verstanden wissen, sondern als selbständige Formen der Verkündigung und des Gesprächs mit Gott.

    1. Avatar von David Plüss
      David Plüss

      Der Einwand ist berechtigt. Die Liturgie ist mehr als ein Gewand, welches das Eigentliche oder Essentielle – die Verkündigung in der Gestalt der Predigt – umgibt, sondern ist eine ganz eigene Gattung religiöser Praxis. Darauf weist Johannes Stückelberger mit der Metapher der Augenhöhe hin. Dennoch kommt der Predigt historisch betrachtet und im theologischen Verständnis in reformierten Kirchen und Gemeinden eine zentrale Bedeutung zu. Sie wird als Kern und Höhepunkt der Feier in Szene gesetzt, ‹gerahmt› von wenigen Gebeten und Gesängen. Die Wirkungsgeschichte der liturgisch ‹gerahmten› Predigt reicht bis in die Gegenwart. Viele Reformierte besuchen keinen «Gottesdienst», sondern gehen «z Predig». Sie identifizieren den Gottesdienst schlicht und einfach mit der Kanzelrede. Die Metapher von der «Nacktheit» der Predigt will dieser typisch reformierten Fokussierung auf die Predigt und die damit verbundene Ausblendung oder Geringachtung liturgischer Praxis gerade wehren. Die etwas polemische Akzentuieren kann natürlich zu Missverständnissen führen. Insofern bin ich froh um den kritischen Kommentar von Johannes Stückelberger.

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