Gott im Gottesdienst, Nr. 2
Nicht der Kirchenraum macht den Gottesdienst aus, auch nicht die Orgelmusik oder die traditionelle liturgische Sprache. Sondern dass Gott erwartet wird. Wo dies nicht stattfindet, ist kein Gottesdienst.
Matthias Zeindler
Miriam Löhr ist ein geduldiger oder ein höflicher Mensch, oder beides. Ich bin nicht sicher, ob ich wie sie die beiden von ihr geschilderten Veranstaltungen bis zum Ende durchgestanden hätte. Und das, obwohl ich Klaviermusik in fast allen Spielarten mag. Und obwohl Kirchenräume mir meist ein Gefühl der Beheimatung vermitteln. Aber ich wäre ja zu beiden Anlässen mit der Erwartung gekommen, an einem Gottesdienst teilzunehmen. Und in beiden Fällen wäre diese Erwartung enttäuscht worden. Deshalb kann es gut sein, dass ich beide Male den Ort des Geschehens vorzeitig verlassen hätte.
Natürlich eröffnet man damit die altbewährte Frage, was einen Gottesdienst zum Gottesdienst macht. Die Diskussionen über Verkündigungssprache, Musikstile oder liturgische Elemente brauchen wir nicht ein weiteres Mal durchzuexerzieren, Miriam hat dazu das Nötige gesagt. Die Gottesrede muss immer neu kritisch überdacht und überholte, z.B. patriarchale Sprachmuster eliminiert werden – geschenkt! Dass liturgische Sprache kreativ und poetisch sensibel, gleichzeitig aber fassbar sein sollte – geschenkt! Dass die Orgel nicht das kanonische kirchliche Instrument ist – geschenkt! All das entscheidet nicht darüber, ob eine Veranstaltung als Gottesdienst bezeichnet werden kann.
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Die alte Streitfrage: Was ist ein Gottesdienst?
Miriam beobachtet bei den von ihr besuchten Gottesdiensten, dass das Wort «Gott» fehlt. Und das Wort «Gott» vertritt die, die damit bezeichnet wird, Gott. Der Gebrauch des Wortes «Gott» signalisiert im Gottesdienst, dass man mit der Präsenz derjenigen, die damit bezeichnet wird, rechnet. Zur reformierten Tradition gehört dabei, dass die Präsenz Gottes nicht einfach vorausgesetzt wird. Und dass sie erst recht nicht herstellbar ist. Gott ist frei, um ihre Gegenwart können wir lediglich bitten, wir können sie erhoffen und auf sie warten. Aber auch wenn es im Modus der Erwartung und des Hoffens ist, im Gottesdienst wird mit Gott gerechnet. Und damit sind wir beim massgeblichen Kriterium für einen Gottesdienst: Ein Anlass wird dann und nur dann zum Gottesdienst, wenn in ihm die Präsenz Gottes erwartet wird.
Damit wird nicht behauptet, dass Gott anderswo nicht präsent ist. Es wird wie gesagt auch nicht behauptet, dass Gott in einem Gottesdienst immer anwesend ist. Wenn Jahwe durch den Propheten Amos den Israeliten entgegenschleudert, «ich hasse, ich verabscheue eure Feiern» (5,21), warum sollte dies nicht auch in unseren Kirchen vorkommen? Aber der Gottesdienst ist der Ort und die Zeit, wo Menschen sich darauf einstellen, von Gott zu hören, ihr Leben im Horizont des lebendigen Gottes zu thematisieren und sich im Lied und im Gebet an sie zu wenden. Miriam deutet es eher diskret an, dass das Gebet von der Voraussetzung eines Gegenübers lebt – ich möchte dies verstärken und verallgemeinern: Wo ein göttliches Gegenüber nicht die Voraussetzung einer liturgischen Feier ist, bricht diese in sich zusammen. Sie mag dann alles Mögliche sein, und dies womöglich auch in bester Qualität. Ein Gottesdienst zu sein, kann aber ein solcher Anlass nicht mehr für sich in Anspruch nehmen.
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Eintreten in Gottes Gegenwart
Eine Gemeinschaft in Erwartung der Gegenwart Gottes: dies ist das unterscheidende Merkmal des Gottesdienstes. In diesem Sinne ist jeder Gottesdienst eine eigene Welt. Das lässt sich an der Liturgie der meisten Gottesdienste quer durch die Konfessionen ablesen. Am Beginn des Gottesdienstes steht in der Regel ein Teil, in dem die Feiernden ankommen, wo ihnen mit einem liturgischen Gruss Gottes Gnade und Frieden zugesprochen wird und man einen Gesang anstimmt. Die Funktion dieses Eröffnungsteils ist die des Schwellenrituals, in welchem in liturgischer Form der Eintritt aus der profanen Alltagswelt in den Kontext der gottesdienstlichen Realität begangen wird. Es ist sachgemäss, dass in manchen Konfessionen hier auch ein Schuldbekenntnis und die Bitte um Gottes Erbarmen steht, in der römisch-katholischen Messe im «Kyrie». Damit wird markiert, dass die Teilnehmenden beim Übertritt für die Gegenwart Gottes zubereitet werden müssen. Für die andere Welt des Gottesdienstes müssen sie selbst ein Stück weit Andere werden.
Analog dazu bedarf auch der Weg zurück in die profane Realität der liturgischen Begleitung: Vorbereitet durch die Bitten für die Welt ausserhalb des Gottesdienstes, wird die Gottesdienstgemeinde mit der Aufforderung in ihren Alltag geschickt, das in der Feier Gehörte und Erfahrene hinauszutragen. Mit dem Segen erhalten die Teilnehmenden am Gottesdienst zugesprochen, dass Gottes Fürsorge sie über die Schwelle in die Profanität begleitet.
Die Reformierten sind unter den Konfessionen diejenigen, die die Unterscheidung von profan und sakral wohl am stärksten eingezogen haben. Trotzdem kennt auch ihr Gottesdienst die Schwellenrituale am Anfang und am Schluss. Auch der reformierte Gottesdienst bezeugt eine Differenz von innen und aussen. Die Differenz besteht – nochmals – darin, dass innen Gottes Gegenwart erwartet wird.
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Vorauseilender Gehorsam
Offenkundig gibt es Menschen, die auch Zusammenkünfte schätzen, in denen trotz des Etiketts «Gottesdienst» Gott nicht zur Sprache kommt. Trotzdem vermute ich, dass man sich in der Kirche irrt, wenn man meint, damit ein breites Bedürfnis zu erfüllen. Es weist vieles darauf hin, dass auch Menschen, die nicht in Gottesdienste gehen, dass sogar säkulare Menschen von den Kirchen erwarten, dass in ihren Feiern Gott zur Sprache kommt. Dass mit Gott gerechnet, auf ihn gewartet wird. So dass die Gottesdienste ohne Gott eher ein Ausdruck von vorauseilendem Gehorsam gegenüber einer vermuteten Säkularität wären. Oder, in einem bekannten Begriff von Wolfgang Huber, Selbstsäkularisierung der Kirche.
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Matthias Zeindler ist Titularprofessor für Dogmatik an der Theologischen Fakultät Bern und Leiter des Bereichs Theologie der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn.
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