Kollektives Sehen

Wie erfahren Gottesdienstbesucherinnen und -besucher Gemeinschaft? Vor allem im Hören? Ich vertrete die These, dass sich die Erfahrung von Gemeinschaft auch über das Sehen einstellt. Es gibt ein kollektives Sehen.

Johannes Stückelberger

 

In ihrem Blog-Beitrag vom 1. Juni 2022 diskutiert Miriam Löhr die Rolle des Sehens und des Hörens im Gottesdienst und kommt zum Schluss, es sei „der Klang, die Musik, die aus den Einzelnen ein Kollektiv [mache] – im ekklesiologischen Sinn: eine Gemeinde.“ Die Autorin hat mich gebeten, darauf einen Respons zu schreiben.

Nun, ich sage gleich, dass mir die These vom individuellen Auge und kollektiven Ohr nicht einleuchtet. Löhr beruft sich auf einen Satz aus einem Filmhandbuch, wonach es die Musik sei, die die Kinozuschauer gemeinsam emotional beeinflusse. Auch dies halte ich nicht für richtig. Warum sollen wir nicht davon ausgehen, dass beides, das Sehen und das Hören, die Besucher sowohl als Individuen als auch im Kollektiv ansprechen? Als Kunsthistoriker will ich Argumente für das kollektive Sehen beibringen.

Löhr begründet die Individualität des Sehens damit, dass beim Film jede Zuschauerin, jeder Zuschauer die Möglichkeit hat ihre oder seine Aufmerksamkeit auf das zu richten, was sie bzw. ihn gerade interessiert. Die eine sieht den „Mond im Hintergrund“, der andere den „Müllsack seitlich im Bild“. Auch im Gottesdienst, digital oder analog, sei es so, dass das Auge frei umher- oder abschweifen könne, während es dem Ohr weniger möglich sei, den Klang der Orgel oder der Stimme auszublenden.

Die Rede vom individuellen Auge beruht, so vermute ich, auf einem Verständnis von Sehen als sukzessiver Wahrnehmung von Einzelheiten: der Mond, der Müllsack, etc. Sehen funktioniert aber nicht so. Das Sehen ist immer zugleich ein sukzessiver als auch ein simultaner Akt. Sukzessiv heisst: Das Auge sammelt im Bild oder im Raum Informationen, folgt einer Handlung in ihrem Verlauf, achtet auf dieses oder jenes Detail. Simultan heisst: Das Bild oder der Raum werden als Ganzes wahrgenommen. Im Bild ist das Ganze durch den Rahmen definiert, im Raum durch dessen Begrenzung oder Offenheit. Jedes Detail, dem wir innerhalb des Bildes oder Raumes folgen, nehmen wir immer zugleich in seiner Beziehung zum Rahmen beziehungsweise zum gesamten Raum wahr. Was ein Bild oder ein Raum an Eindrücken hinterlassen, bestimmt sich aus der Beziehung, in der die Einzelinformationen sowohl zueinander als auch zum Ganzen stehen. Für den Eindruck des Ganzen sind dabei auch ungegenständliche Elemente wie die Farben, das Licht, die Materialisierung verantwortlich. Das heisst, Farben, Licht und Material stehen nicht nur im Dienst einer Charakterisierung des Einzelnen, sie vermitteln darüber hinaus einen Gesamteindruck, eine Atmosphäre, eine Stimmung. Für Farben, Licht, Materialien gibt es durchaus eine kollektive Verständigung. Eine Mehrheit nimmt beispielsweise Gelb als helle, nach Aussen strahlende, hochtönende Farbe wahr, Dunkelblau jedoch als dunkle, nach Innen orientierte, tieftönende Farbe.

Um Bilder und Räume auf die beschriebene Weise wahrzunehmen, braucht es keine Vorkenntnis oder Übung, dieses Sehen stellt sich automatisch ein. Wir sehen immer zugleich sukzessiv als auch simultan. Insbesondere das simultane Sehen vermittelt ein kollektives Seherlebnis, das der Wirkung von Musik oder einer Stimme vergleichbar ist. Und da spielt es nun keine Rolle, ob Kirchen, wie viele katholische, reich ausgestattet sind mit Figuren und Bildern, oder ob sie, wie die reformierten, schlichter gestaltet sind. Beide Kirchentypen haben eine optische Ausstrahlung, ermöglichen ein kollektives Sehen. Beide haben eine Ästhetik, wenn auch eine unterschiedliche.

Ich möchte lediglich zwei Elemente nennen, die im Gottesdienst kollektive Seherlebnisse vermitteln und somit zu einer optischen Erfahrung von Gemeinschaft beitragen. Als erstes das Kirchengebäude. Dessen Wahrnehmung beschränkt sich für die Kirchenbesucherinnen und -besucher nicht auf den Bildausschnitt, den sie, in der Kirchenbank sitzend, sehen. Das Sehen beginnt bereits beim Gang zur Kirche, beim Weg, den wir zusammen mit den anderen Gottesdienstbesucherinnen und -besuchern gehen. Wir schauen zum Turm hoch, der seit Generationen das Dorfbild prägt. Wir sehen das dicke, alte Gemäuer. Und die Grundform des Innern, mit Schiff und Chor, ist uns vertraut, so vertraut, wie der Banknachbarin links und dem Banknachbarn rechts. All dies spricht uns als Kollektiv an, schafft ein Gemeinschaftsgefühl, und zwar nicht nur vor Ort, sondern weltweit und über alle Zeiten hinweg. In der Kirche, in der ich jetzt sitze, haben Menschen schon Generationen vor mir gesessen. Und dass die Kirchen auf der ganzen Welt ein Aussehen haben, das sie als Kirchen erkennen lässt (ein über fast 2000 Jahre gleichgebliebenes corporate design) trägt ebenfalls zur Gemeinschaftsbildung bei. Natürlich gibt es auch im Wohnungsbau oder bei anderen Bautypen Traditionen und Kontinuitäten, aber die Wiedererkennbarkeit ist bei den Kirchen besonders gross. Nicht nur an ihrem Äussern, auch im Innern erkennt man Kirchen, gleich welcher Zeit, als Kirchen, anhand der wichtigsten Ausstattungsstücke wie Altar oder Abendmahlstisch, Ambo oder Kanzel, Taufstein und Weiterem.

Als ein zweites Element, das optisch die Erfahrung von Gemeinschaft vermittelt oder vermitteln kann, nenne ich den liturgischen Gestus des Segnens. Liturginnen und Liturgen, die beim Schlusssegen ihre Arme ausbreiten, unterstützen die Segensworte mit einem Gestus, der seit dem Frühchristentum verwendet wird, und den man durchaus als universellen Gestus bezeichnen kann. Wer mit diesem Gestus gesegnet wird, erfährt sich – sei es im analogen oder digitalen Gottesdienst – als Teil einer weltweiten Gemeinschaft. An dieser Stelle sei an den Kulturhistoriker Aby Warburg erinnert, der an einer Theorie des sozialen Gedächtnisses auf der Grundlage von Bildern und Gesten arbeitete. Eine zentrale Rolle spielt bei ihm der Begriff der Pathosformel, worunter er bestimmte wiederkehrende Bildformeln versteht, die mit jeder Wiederkehr zugleich das ursprünglich in diese Formel eingeprägte Affektpotential aktivieren. Kunstwerke und Gesten deutet er als Produkte von Ausdrucksenergien, die als Engramme im kollektiven Gedächtnis gespeichert sind. Werden diese Formeln – zum Beispiel der Segensgestus – abgerufen oder aufgerufen, können sie, als im kollektiven Gedächtnis verankert, immer wieder neu die Erfahrung von Kollektivität vermitteln. Es gibt ein kollektives Sehen, auch im Gottesdienst.

 

 

Zur Einführung in ein Sehen, das sich nicht auf das Sehen von einzelnen Motiven (in der Kunstgeschichte als Methode der Ikonographie bezeichnet), beschränkt, empfehle ich: Johannes Stückelberger, „Wie Bilder predigen“, in: Jan Hermelink und David Plüss (Hg.), Predigende Bilder. Was die Homiletik von Kunstwerken lernen kann, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2017, S. 43-70.

 

 

Johannes Stückelberger ist Dozent für Religions- und Kirchenästhetik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern und Titularprofessor für Neuere Kunstgeschichte an der Universität Basel


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