The Queens Funeral

Liturgie als stimmiges und telegenes Passageritual

Das längst totgesagte Ritual christlicher Liturgie erweist sich für einmal als quicklebendig und medienwirksam: Die Abdankungsfeier für die verstorbene Queen Elisabeth II wurde mit bis ins Einzelne durchkomponierten Gottesdiensten und Prozessionen begangen. In scharfem Kontrast zum aktuellen Hype der Authentizität und Spontaneität in den Sozialen Medien und darüber hinaus steht ein strenges Ritual, in dem ganz andere Kriterien der Gestaltung relevant zu sein scheinen. Wie ist das zu deuten? – Ein Versuch.

David Plüss

Die ganze Welt war dabei oder hat zugeschaut: bei der Abdankung der Queen in der Westminster Abbey, bei der langen Prozession des Sarges durch die Strassen Londons und bei der Bestattung in der St. George’s Chapel. Tausende waren in der Abbey versammelt und noch viel mehr standen oder sassen vor der Kirche, um von ihrer Königin Abschied zu nehmen. Millionen von Menschen haben – von der BBC übertragen – zugeschaut: wie der Sarg der Verstorbenen feierlich in die Kirche getragen und aufgebahrt wurde, begleitet von Chorgesang; wie geistliche Würdenträger in prunkvollen Gewändern liturgische Gebete sprachen; wie Liz Truss, die frisch gewählte Premierministerin, eine Perikope aus dem Johannesevangelium im altertümlichen Englisch der King James Bibel auf der Kanzel rezitierte; wie die in der berstend vollen Kirche versammelte Gemeinde in scheinbar allen bekannte Choräle einstimmte; und wie Justin Welby, der Erzbischof von Canterbury, seine knappe, würdigende und hoffnungsfrohe Predigt hielt.

Was mich als reformierter Schweizer besonders beeindruckte: Jeder Schritt und jede Bewegung ‘sassen’. Sie waren offenkundig vorgegeben, koordiniert, eingeübt und in ihrer stilisierten Performanz der Feier angemessen. Alle Liturgien und Prozessionen waren seit vielen Jahren «planned to the minute» mit «arcane and highly specific» Details (The Guardian).[1] Jedes Wort stand fest, wurde mit Emphase gesprochen, wobei der Sound nie ins Pastorale und Pathetische kippte. Und zwischen den wohldosierten Worten, herzanrührenden Gesängen und wuchtigen Orgel- und Fanfarenklängen – immer wieder Stille. Stille, in der kaum etwas zu hören war. Die vielen hundert Menschen in der Kirche schwiegen, hielten Andacht. So auch die Menschen vor der Kirche. Das Tosen der Stadt schien für einen langen Moment unterbrochen. Die Stille liess der kollektiven Trauer Raum und dem Andenken Zeit.

Noch frappierender waren für mich die grosse Ernsthaftigkeit und Betroffenheit der Menschen, welche die Kamera einfing: die liturgischen Akteure, die königliche Familie, die Politiker:innen und die vielen, vielen Gäste im Kirchenraum, die Menschen vor der Kirche, in Edinburgh oder Oxford, am Boden sitzend und der Feier über grosse Screens und Lautsprecher folgend. Kein Feixen, kein jugendlicher Schabernack, kein Anzeichen ironischer Distanz. Obwohl die Menschen des United Kingdoms doch Meister:innen sind der Ironie und des schwarzen Humors, der nichts auslässt.

Als Homiletiker fokussierte ich auf die Predigt. Diese war, wie erwähnt, kurz und bündig. Sie war keineswegs die Mitte der Feier, sondern ein Teil neben anderen und jedenfalls nicht der eindrücklichste. Eher ein Unterbruch des strikten Rituals durch eine religiöse Rede. Und sie war keine Textauslegung, wie hierzulande üblich, sondern eine knappe Kasualpredigt. Bibeltexte wurden vielfältig ‘ausgelegt’ und in die Situation der Abdankungsfeier ‘übersetzt’, aber nicht in der Predigt. Dafür umso mehr durch die Performanz der Lesungen. Besonders eindrücklich in der Lesung von Patricia Scotland, Baroness Scotland of Asthal, der Vorsitzenden des Commonwealth of the Nations. Sie las langsam, betont, eindringlich, aber frei von Pathos und pastoralem Sound. Sie las den Text aus 1. Korinther 15, den ich durch diese Lesung neu und anders hörte. Weitere ‘Auslegungen’ erfolgten musikalisch: Psalm 42, Verse 1–7, gesungen durch den Chor, komponiert eigens für diese Feier von Judith Weir. Weiter gab der Chor Psalm 34 und Römer 8 Klang- und Interpretationsräume. Und die riesige Trauergemeinde interpretierte singend Psalm 23.

Aus der knappen Schilderung dürfte deutlich geworden sein: Die Schönheit, Kraft und mediale Resonanz dieser Feier erstaunt und begeistert den reformierten Republikaner. Ist es das «Heimweh nach den schönen Gottesdiensten Roms», das mich angesichts dieser Feier infiziert hat und über das Karl Barth bereits vor hundert Jahren frotzelte? Vielleicht. Aber es ist noch etwas anderes.

Nach Victor Turner sind echte Rituale passé. Aufklärung, Industrialisierung und die Säkularisierung hätten ihnen den Garaus gemacht. Rituale liessen sich nur noch fernab in archaischen Gesellschaften oder an historischen Beispielen aus dem Mittelalter oder der Antike erörtern. Aber hier und heute sind, so Turner, nur noch ritualähnliche Handlungen zu beobachten. Diese findet er in der Hippie-Bewegung, im Karneval oder im Theater. «Vom Ritual zum Theater» lautet denn auch der Titel eines seiner Hauptwerke.[2] Die Schwellenphase des Rituals, in der die Gesellschaftsstrukturen ausser Kraft gesetzt sind, haben ihre egalisierende und transformierende Kraft längst verloren, sei nicht mehr liminal, sondern bloss noch liminoid, schwellenähnlich.

Ähnliches gilt für die Resonanz des Gottesdienstes. Er sei ein Auslaufmodell, ist landauf, landab zu hören und in fast jedem Feuilleton zu lesen. Ein Patient im künstlichen Koma, am Leben erhalten durch aufwändige Gerätschaften. Leere Kirchen, kleine und überalterte Gottesdienstgemeinden. Einsame Pfarrer auf ihren Kanzeln. Ein sinkendes Schiff. Und viel zu teuer.

Stimmt die Analyse? – Ja und nein. Ja, das Schwellenritual, das Turner beschreibt, stammt aus einer anderen Welt. Und ja, der Gottesdienst leidet vielerorts unter Auszehrung. Aber wie gehen die Abgesänge auf das Ritual und auf den Gottesdienst zusammen mit der beschriebenen Abdankungsfeier für die Queen? An der liturgischen oder rituellen Qualität dieser Feierlichkeiten wird kaum jemand zweifeln. Es war alles in allem ein waschechter rite de passage, eine Abdankungsfeier in der sorgfältig gepflegten liturgischen Tradition der Church of England mit allem Drum und Dran.

Aus ritualtheoretischer und liturgiewissenschaftlicher Sicht erkläre ich mir die Sache so:

1. Turner lag falsch mit seiner These. Durchkomponierte religiöse Rituale sind in der (spät-) modernen Gegenwart keineswegs fehl am Platz und werden nicht ersetzt durch abgeschwächte und säkulare Surrogate. Damit soll keineswegs bestritten werden, dass es säkulare Funktionsäquivalente gibt, die grosse sozialisierende – inkludierende wie exkludierende – Kräfte freisetzen: Fussballspiele, Open Air-Konzerte, die Basler Fastnacht. Aber das religiöse Ritual lebt. Traditionelle Gottesdienste können kraft ihrer traditionellen Formsprache, kraft ihres (oft vermeintlichen) Alters und ihrer klanglichen und ästhetischen Performanz eine verblüffende – auch mediale – Resonanz entfalten.

2. Ich gehe davon aus, dass in Zeiten wachsender Verunsicherung und Krisen traditionsgeleitete Rituale und Liturgien per se, also noch ohne deren symbolisch artikulierte Hoffnungsbilder, als stabilisierend und eine bewährte Ordnung verbürgend wahrgenommen werden. Eine solche Wahrnehmung und Bewertung ist nicht zwingend mit einer konservativen oder gar reaktionären Weltsicht und Einstellung verbunden. Das Verständnis für gewachsene und kultivierte Ordnungen, Rhythmen und Strukturen findet sich vielfältig auch bei progressiv gesinnten Menschen.

3. Die noch immer verwendete Liturgiesprache des Book of Common Prayer aus dem 17. und das altertümliche Englisch der King James Version der Bibel aus dem 18. Jahrhundert sind nicht einfach dem Protokoll von Traditionalisten geschuldet, sondern gängige und erwartete Praxis im hochkirchlichen Zentrum der Church of England. Sie ist darüber hinaus für öffentliche Feiern offenbar breit akzeptiert und erstaunlich telegen. Vielleicht vermittelt die Altertümlichkeit den verlesenen Bibeltexten ein Gewicht und einen Bedeutungsraum, der die konfuse und krisengebeutelte Gegenwart weit übersteigt und Horizonte aufspannt, die hoffen lassen und trösten.

4. Und ist es angesichts des Hypes der Authentizität in den Sozialen Medien und darüber hinaus nicht entlastend, Menschen in liturgischen Rollen zu erleben – von den Sargträgern über die Wachsoldaten, die Bibeltexte lesenden Politikerinnen bis hin zum liturgischen Zeremonienmeister –, die sie ganz und gar zu ihren eigenen machen, sie mit Sorgfalt und Verantwortung ausfüllen, so, als hinge das Gelingen des Royal Funerals von ihrem Rollenspiel ab? Ich bin sicher, dass dem so ist.

Und zum Schluss noch eine Vermutung: Auch wenn die Liturgie der Church of England sich in vielerlei Hinsicht unterscheidet von reformierten Predigtgottesdiensten Deutschschweizer Kirchen, könnte auch hier gelten, dass liturgische Sorgfalt im zuweilen ausgedünnten Sonntagsgottesdienst alle Beteiligten vorbereitet für herausgehobene Gottesdienste und rites de passage, die, wenn sie gut gemacht sind, sich als tröstlich und hilfreich für viele erweisen.

Prof. Dr. David Plüss, lehrt Homiletik, Liturgik und Kirchentheorie an der Theologischen Fakultät der Universität Bern und Co-Leiter des Kompetenzzentrums Liturgik.

 


[1] Ablauf, Akteur:innen und Texte der gesamten Feierlichkeiten finden sich unter URL: https://www.bbc.com/news/uk-62948934.

[2] Victor Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt/New York 1989.


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Kommentare

2 Antworten zu «The Queens Funeral»

  1. Avatar von Miriam Löhr
    Miriam Löhr

    Möglicherweise wird Turners Ansatz nicht widerlegt, sondern bestätigt? Immerhin lässt sich mit seinem Instrumentarium die Besonderheit der Verkörperung dieses minutiösen Ritualprotokolls erklären, einschliesslich – so vermute ich – der Sehnsucht vieler Menschen nach «echten» Ritualen. Vielleicht hätte Turner diese Abdankungsfeier in ihrer Ausgestaltung und Wirkung gar als liminal kategorisiert. Jedenfalls scheint sie ein Kriterium spezifisch liminaler Phänomene zu erfüllen: das der Unvermeidbarkeit der (empirisch freilich pluralen) Beteiligung am Ritual in einem weiten Sinne, in diesem Fall nicht nur einer lokalen Gemeinschaft, sondern in digitaler Erweiterung sogar global. Dem entspräche auch die beobachtete Ernsthaftigkeit der Teilnahme.

  2. Avatar von Christian von Zimmermann
    Christian von Zimmermann

    Herzlichen Dank für die spannende Analyse. Drei Gedanken aus der Perspektive des Fachfremden füge ich hier an:

    (1) Die Abdankungsfeier für die verstorbene Queen reiht sich ein in die Geschichte fürstlicher Abdankungen und folgt einem Protokoll, das gleicher Weise durchorganisiert ist, wie dies bei wichtigen Vorgängerereignissen der Fall war. Gemeinsamer Leitaspekt dieser Abdankungen ist die Verschränkung des religiösen Rituals mit der staatlichen Inszenierung. Die Organisation der Abdankungsfeier ist historisch ein sprechendes Bild, eine Allegorie, der staatlichen Ordnung. (Man denke an die Inszenierung von Abdankung und Grab der österreichischen Monarch*innen Maria Theresia und Joseph II.) Im Rahmen des Protokolls nimmt jede Person den ihr zugewiesenen Platz ein und erfüllt ihn bestmöglich. Dabei werden Hierarchien protokollarisch gefestigt, aber es wird gleichzeitig das Protokoll als verbindendes Band ausgewiesen, das für alle gilt. Das Bild der Politikerin, die den Bibeltext liest, ist ein gutes Beispiel für diesen Doppeleffekt einer hierarchisch hervorgehobenen Position, die sichtbar wird, und einer einordnenden Funktion, welche die herausgehobene Stimme dem tradierten biblischen Text unterwirft. Die Abdankungsfeier mag ebenfalls doppelte Sehnsüchte befriedigen: die Sehnsucht nach einem ‘festen’ Ort in der Gesellschaft (mit Z. Bauman wohl als antimodern zu bezeichnen) und die Sehnsucht nach einem Aufgehobensein im Ritual. Das sind aus meiner Perspektive nachvollziehbare, aber ambivalente Sehnsüchte.

    (2) Das Nebeneinander von ‘entritualisierten’ Räumen und persistierenden Ritualen empfinde ich nicht als verwunderlich. Sie entsprechen dem ‘symbolic tinkering’, auf das bereits Kenneth Burke hingewiesen hat (in: Attitudes Toward History).

    (3) Dass Rituale problematische Aspekte mit sich führen (siehe 1), bedeutet freilich nicht, dass sie grundweg abzulehnen sind. Ich denke auch, dass Rituale einen wichtigen Beitrag zur kollektiven Resilienz gegenüber verunsichernden Erfahrungen bilden und sofern ein Rüstzeug, auf dem auch das Coping mit besonderen sozialen Situationen aufbauen kann, wie es die Vermutung am Schluss ja ausdrückt.

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