Warum es damit seine Richtigkeit hat
An Pfingsten Stau, im Advent Stress. Das gehört einfach dazu. Ich persönlich ertrage den Adventsstress besser, seit ich begriffen habe, dass es mit ihm theologisch durchaus seine Richtigkeit hat. Wie er sich in den Gottesdienst einbauen lässt, dazu am Schluss ein Vorschlag im Dialog mit einem Bild.
Johannes Stückelberger
Was verursacht eigentlich den Adventsstress? Gerne macht man dafür das Weihnachtsgeschäft verantwortlich, die Einkaufsorgien, den Geschenkerummel. Doch ist das nur die halbe Wahrheit. Ganz schön stressig ist es auch, all die Bräuche und Traditionen zu leben, die sich im Zusammenhang mit dem Advent entwickelt haben und zu Ritualen im Sinne von Gewohnheiten geworden sind: Adventskranz binden, Adventskalender kaufen oder selber machen, das Haus innen und aussen adventlich schmücken, an den privaten oder den von Geschäften angebotenen Adventsfenstern teilnehmen, den Weihnachtsmarkt besuchen und mit Freunden heissen Punch trinken, das Weihnachtsspiel der Schule nicht verpassen, auch nicht die vielen Adventskonzerte, St. Nikolaus, Kerzen ziehen, Geschenke einkaufen, Guetzli backen, den Weihnachtsbaum besorgen, die Familientreffen organisieren, das Weihnachtsessen vorbereiten und vieles mehr. Eigentlich der helle Wahnsinn, was alles in die vier Wochen vor Weihnachten gepackt wird. Und dann kommt Heiligabend, vielleicht mit dem Besuch eines Weihnachtsgottesdienstes. Und spätestens beim Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“ fällt der Stress von einem ab, kann man sich entspannen. Schon allein aus diesem Grund darf das Lied nicht fehlen, es hat eine kathartische Funktion und Wirkung. Wie soll man sich zu diesem Adventsstress verhalten? Boykottieren? Sonntagsverkäufe verbieten? Was erwartet man diesbezüglich von den Kirchen? In dieser heiligen, besinnlichen Zeit? Dass es im Advent derart viel Kitsch gibt, hängt meines Erachtens damit zusammen, dass man so tut, als sei es eine heilige, ruhige Zeit, wo sie doch alles andere als das ist. Die Adventszeit ist eine unruhige, bewegte, stressige Zeit. Und dass sie dies ist, damit hat es seine Richtigkeit, auch theologisch.
Adventsstress in der Bibel
Vergegenwärtigen wir uns die Ereignisse, die gemäss den biblischen Erzählungen der Geburt Jesu vorausgehen und somit adventlichen Charakter haben. Schon die Verheissung der Geburt beginnt mit Stress. Wie der Engel bei Maria eintritt und sie grüsst, erschrickt diese, fürchtet sich und weiss nicht, was das zu bedeuten hat (Lk 1,26-38). Ihr wird verheissen, dass der Heilige Geist über sie komme und die Kraft des Höchsten sie beschatte. Maria wird schwanger, sie ist schwanger. Die Botschaft des Engels bewegt sie, sie ist aufgewühlt, erschüttert. Ihrem Bewegtsein verleiht sie Ausdruck, indem sie sich auf den Weg macht, in eine Stadt im Bergland von Judäa eilt und ihre Verwandte Elisabeth besucht. Sie geht nicht, sie eilt. Und wie sie Elisabeth begrüsst und Elisabeth den Gruss Marias hört, hüpft deren Kind vor Freude in ihrem Leib (Lk 1,39-56). Worauf Maria zu ihrem Magnificat ansetzt, ihre Seele die Grösse Gottes preist und ihr Geist über Gott jubelt. Wie Josef, Marias Verlobter, von der Schwangerschaft erfährt, will er sich in aller Stille von ihr trennen, was ein Engel, der ihm im Traum erscheint, verhindert (Mt 1,18-25). Im dümmsten Moment, Maria ist bereits hochschwanger, ergeht der Befehl, alle Bewohner des Reiches müssten in ihre Heimatstadt gehen, um sich in Steuerlisten einzutragen. Für Josef und Maria bedeutet dies, den Weg von Nazareth nach Bethlehem unter die Füsse zu nehmen (Lk 2,1-5). Mit Advent in Verbindung gebracht wird auch Jesu Einzug in Jerusalem, weshalb er als Evangelientext nicht nur für den Psalmsonntag, sondern auch für den ersten Sonntag im Advent dient. Auch diese Geschichte ist äusserst bewegt: wie Jesus auf der Eselin reitet und in Jerusalem einzieht, die Menschen ihre Kleider auf den Weg legen, Palmzweige streuen und Hosanna rufen, und wie die ganze Stadt in Aufregung gerät (Mt 21,1-11). An dem Tag künden sich auch die ersten Spannungen an, die schliesslich zur Ermordung Jesu führen.
Erschrecken und sich fürchten; eilen, hüpfen, preisen, jubeln; Unerklärliches ertragen; im dümmsten Moment eine Weisung erhalten; Freude, Ekstase, Jubel, Aufregung, ein sich ankündigender Widerstand – das ist biblischer Adventsstress, das ist Advent. Wie uns die fünf biblischen Geschichten zeigen, gehört der Stress offensichtlich und notwendig zum Advent dazu. Seit ich mir dessen bewusst bin, lebe ich mit ihm ganz gut, kann ich mich darüber sogar freuen. Ich nehme ihn wahr als Ausdruck einer im kollektiven Gedächtnis der Menschheit verankerten Erwartung von etwas Besonderem, das bevorsteht, und auf das man vorbereitet sein will.
Adventsstress im Gottesdienst
Adventsstress in Ehren, doch was sucht er in einem Liturgikblog? Man muss es nicht unbedingt Stress nennen, man kann auch einfach von der Bewegung sprechen, die die Erwartung von Jesu Ankunft auslöst. Die Aufregung, die Bewegung, das Berührtsein, von denen die Adventsgeschichten erzählen, verdienen es, in den Adventsgottesdiensten thematisiert zu werden. Advent ist noch nicht Weihnachten. Der holde Knabe im lockigen Haar muss erst geboren werden. Noch liegt er nicht in der Krippe, sondern strampelt im Mutterleib. Etliche Adventslieder rufen dazu auf, sich in die Bewegung des Advents hineinnehmen zu lassen, sich aufzumachen (KG 355), die Türen zu öffnen (363), den Weg zu bereiten (364), sich zu überlegen, wie man Jesus empfangen und ihm begegnen will (367) oder ihm Friedenspalmen entgegenzutragen (371).
Wer Interpretationen der biblischen Adventsgeschichten als bewegte Ereignisse sucht, wird auch in der bildenden Kunst fündig. Darstellungen der Verkündigung an Maria, der Heimsuchung (auch Visitatio genannt, der Besuch Marias bei Elisabeth) oder von Jesu Einzug in Jerusalem sind Legion. Seltener sind Bilder, die Josefs Trennungsgedanken oder die Reise nach Bethlehem zeigen. Es mag mit Maria zusammenhängen, dass Verkündigung und Heimsuchung in der reformierten Kirche weniger verbreitet sind. Doch vermögen gerade diese Bilder die Bewegung als das, was die Erwartung von Jesu Ankunft auslöst, besonders schön zum Ausdruck zu bringen.
Adventsstress im Bild
Als Beispiel dafür zeige ich ein Bild der Heimsuchung, gemalt vom italienischen Künstler Jacopo Pontormo (das Bild steht am Schluss des Beitrags). Elisabeth hat soeben von der Ankunft Marias gehört, tritt aus ihrem Haus heraus auf die Strasse und begrüsst hier ihre Cousine. Die beiden Frauen nehmen fast die ganze Höhe des Bildes ein, Hinweise auf den Ort, an dem sich die Szene abspielt, beschränken sich auf wenige Architekturelemente sowie zwei aus der Ferne zuschauende Männer. Die Begegnung ist das Thema des Bildes. Sanft berühren sich die Frauen, ihre Augen nehmen Blickkontakt auf, die Gesichtszüge Elisabeths bringen zum Ausdruck, dass sie sich über den Besuch freut. Sie ist die ältere, ein Schleier bedeckt ihr Haupt und die Schultern. Marias Kopftuch hat sich gelöst, wir sehen ihr rotes, hochgestecktes Haar. Die Frauen tragen weite, wallende Kleider aus unifarbenen, leuchtenden Stoffen: Elisabeth ein grünes Untergewand unter einem orangen Obergewand, Maria ein nur knapp sichtbares rosafarbenes Untergewand unter einem blauen Obergewand. Wie die Stoffe ihrer Kleider fallen, wie sie sich falten, wie das Licht auf sie fällt und sich Schatten bilden, bringt zum Ausdruck, dass die Begegnung die beiden Frauen bewegt, ja gar erregt. Dass Elisabeths Obergewand von der Schulter gerutscht ist, ist vielleicht ein Hinweis darauf, dass in diesem Moment das Kind in ihrem Bauch hüpft. Feine Andeutungen von Heiligenscheinen kennzeichnen die beiden Frauen als Hauptprotagonistinnen. Hinter ihnen stehen zwei weitere Frauen, die in der Bibel keine Erwähnung finden. Hat die jüngere von ihnen vielleicht Maria auf ihrer Reise begleitet, und ist die ältere eine Mitbewohnerin im Haus Elisabeths? Dass ihre Gesichtszüge denen von Maria und Elisabeth gleichen, legt die Vermutung nahe, es könnte sich um Doppelgängerinnen handeln. Doch warum das? Die beiden zusätzlichen Personen schauen frontal aus dem Bild heraus und nehmen Blickkontakt auf mit uns, die wir vor dem Bild stehen. Will der Künstler uns mit diesem Kunstgriff eventuell einladen, nicht nur als aussenstehende Betrachterinnen oder Betrachter der Szene beizuwohnen, sondern uns mit Maria und Elisabeth zu identifizieren, indem wir ihnen direkt in die Augen schauen können? Oder wollen die Frauen mit ihrer starren Haltung zum Ausdruck bringen, dass dieser bewegte und bewegende Moment ein Moment für die Ewigkeit ist?
Pontormos Bild hat 1995 den amerikanischen Künstler Bill Viola zur Videoarbeit „The Greeting“ inspiriert. Vor einem ähnlichen Hintergrund, wie ihn Pontormos Bild zeigt, schreitet eine jüngere Frau auf eine ältere zu und umarmt sie. Zeugin der Begegnung ist eine dritte Frau im Hintergrund. Die dem Film zugrundeliegende Aufnahme hat eine Dauer von 45 Sekunden. In der Wiedergabe ist die Szene auf 10 Minuten und 22 Sekunden gedehnt. Dies erlaubt der Betrachterin, dem Betrachter, jede kleinste Bewegung der Gesten, der Mimik, der Kleider zu beobachten und so Zeuge zu werden dessen, was in den Frauen in diesem kurzen Moment vorgeht.
Können wir aus den beiden Arbeiten von Pontormo und Viola etwas lernen für die Gestaltung von Liturgie und Predigt in Adventsgottesdiensten? Vielleicht dies, genau hinzuschauen und wie in Zeitlupe nachzuempfinden, nachzuerzählen, welche Erfahrungen und Erlebnisse den biblischen Adventsgeschichten und dem Adventsstress zugrunde liegen. Erfahrungen von Erschrecken, Aufregung, Bewegung, Berührtsein, Freude, Jubel. Indem wir fokussiert erzählen, wie beim Betrachten eines Bildes oder eines Films in Slow Motion, wird es uns gelingen, eine Atmosphäre der Ruhe und Stressfreiheit zu schaffen – und dies in Auseinandersetzung mit dem Adventsstress. Und vielleicht werden die Gottesdienstbesucherinnen und -besucher dann heimgehen und sagen: Mit dem Stress im Advent hat es seine Richtigkeit.
Jacopo Pontormo, Visitatio, 1528–1529, Öl auf Holz, 202 x 156 cm, Propositura dei Santi Michele e Francesco, Carmignano (Prato)
Von Bill Violas Werk zeige ich kein Bild, da Stills das Wesentliche seiner Arbeit nicht wiederzugeben vermögen. Da der Künstler seine Filme als Installationen präsentiert – bei denen dann beispielsweise die Grösse des Bildschirms eine Rolle spielt – stellt er sie im Internet nicht zur Verfügung. Die kleinen Ausschnitte, die es von „The Greeting“ dennoch auf Youtube gibt, werden zu schnell abgespielt und verfälschen die vom Künstler intendierte Wirkung.
Johannes Stückelberger ist Dozent für Religions- und Kirchenästhetik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern und Titularprofessor für Neuere Kunstgeschichte an der Universität Basel
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