Max Liebermann, Der zwölfjährige Jesus im Tempel, 1879, Öl auf Leinwand, 149,6 x 130,8 cm, Hamburg, Hamburger Kunsthalle (Bildnachweis: Matthias Eberle, Max Liebermann 1847–1935. Werkverzeichnis der Gemälde und Ölstudien, Bd. 1, München 1995, S. 161).

Predigt als Gespräch

Ausgehend und angeregt von einer detaillierten Analyse des Bildes «Der zwölfjährige Jesus im Tempel» von Max Liebermann, fragt der Blog, ob die Art und Weise, wie sich Jesus in diesem Bild mit den Lehrern austauscht, ein Modell für die Predigt sein könnte: für eine Predigt als Gespräch.

Johannes Stückelberger

 

Über die Art und Weise zu predigen, gibt es meterweise Literatur: Abhandlungen über unterschiedliche Formen der Textauslegung, über Rhetorik, Präsenz, Performanz, Kleidung, die Bedeutung des Raums und Weiteres. Als Nichttheologe füge ich dem hier nichts hinzu, als Kunsthistoriker interessiert mich aber, wie Künstlerinnen und Künstler das Predigen bzw. das Auslegen der Bibel in Bildern darstellen. Da Bilder nicht reden, tun sie dies mit den Mitteln der Haltung und der Gestik der Predigenden, mit der Charakterisierung der Zuhörenden und der Darstellung des Raums, in dem der Gottesdienst stattfindet. Ich habe im Laufe der Jahre hunderte von Predigtbildern gesammelt: Darstellungen von Kircheninterieurs mit darin stattfindendem Gottesdienst, Bilder vom in der Wüste predigenden Johannes dem Täufer, von Paulus in Athen, vom predigenden Luther, von der Vogelpredigt des Franziskus, von missionierenden Ordensleuten, von Feld- und Waldgottesdiensten und Weiterem. Und natürlich hat es in meiner Sammlung auch viele Bilder des „predigenden“ Jesus: Insbesondere Darstellungen der Bergpredigt oder des Zwölfjährigen Jesus im Tempel.

In den Mittelpunkt der nachstehenden Überlegungen zur Predigt als Gespräch stelle ich das Bild „Der zwölfjährige Jesus im Tempel“, das der deutsche Künstler Max Liebermann 1879 gemalt und im gleichen Jahr auf der „Internationalen Kunstausstellung“ im Münchner Glaspalast ausgestellt hat. Dass der Künstler Jesus mittels Schläfenlocken als Judenjungen auszeichnete, auf einen Heiligenschein verzichtete und umgekehrt die Schriftgelehrten nicht als Juden „karikierte“, trug ihm den Vorwurf der Blasphemie ein, der dazu führte, dass das Bild aus der Ausstellung entfernt wurde. Für eine zweite Präsentation 1884 in der Exposition internationale“ in Paris arbeitete Liebermann die Figur Jesu um und gab ihr insgesamt ein lieblicheres Aussehen. Als das Bild 1907 ein weiteres Mal in Deutschland gezeigt wurde, war das deutsche Publikum, das sich inzwischen an realistische Bibeldarstellung gewöhnt hatte, von der Darstellung begeistert, was 1911 zum Ankauf durch die Hamburger Kunsthalle führte. 1941 wurde das Bild – wie die meisten Gemälde des Juden Liebermann – aus der Sammlung entfernt und verkauft. 1989 erwarb es die Hamburger Kunsthalle aus Privatbesitz wieder zurück. So viel zur wechselvollen Geschichte des Bildes, die ich hier nicht weiter vertiefe.

Was ich diskutieren will, ist die Art und Weise, wie Liebermann Jesus darstellt. Doch zuerst ein paar Worte zur Gesamtkomposition. Das hellste Licht im Bild lenkt unseren Blick zunächst auf die Mitte, wo Jesus in einem wadenlangen, weissen Rock steht, an den Füssen Sandalen, mit schulterlangem, blondem Haar. Er wendet sich einem vor ihm sitzenden Rabbiner zu, der einen Gebetsmantel trägt, den Kopf auf die rechte Hand stützt und in der Linken ein offenes Buch hält. Zwischen den beiden sitzt, leicht zurückversetzt, ein zweiter Rabbiner mit über dem Knie verschränkten Händen. Die drei Gestalten sind die Hauptprotagonisten des Bildes, wir kommen auf sie zurück.

Die Szene spielt sich in einem Raum ab, für den dem Maler nicht ein antikisierender Tempel, sondern die Portugiesische Synagoge in Amsterdam sowie die sefardische Synagoge in Venedig als Vorbilder dienten. Rechts oben sieht man einen Ausschnitt des Raumes mit Bänken und einer Gruppe von Männern. Kronleuchter, die Wendeltreppe zur Frauenempore, ein Lesepult, in dem Schriften und Tücher verstaut sind, charakterisieren den Raum als Synagoge. Auf der Treppe steigt eine Frau herunter, ihr wendet sich ein Mann zu, es sind Maria und Josef, die nach dreitägiger Suche endlich ihren Sohn wieder finden. Am rechten Bildrand steht ein älterer Mann, der an seinem Spodek (der Pelzmütze) und dem Gartl (Gürtel) als chassidischer oder orthodoxer Jude zu erkennen ist. Mit geneigtem Kopf schaut er zu den zwei Männern links und scheint zu fragen: Was geht hier vor, was tut das Kind, ist das mit unseren Geboten vereinbar? Der auf das Lesepult gestützte Mann am linken Bildrand schaut auf Jesus hinunter, hört ihm intensiv zu, auch er hält in der Hand ein offenes Buch. Hinter ihm steht ein weiterer Jude mit Pelzmütze. Zu erwähnen ist schliesslich der Plattenboden am unteren Bildrand, der Raum schafft für die direkte Teilnahme der Betrachterin, des Betrachters am Geschehen.

Im Bild steckt viel Bewegung. Wie der grün gekleidete Mann links sich ins Bild hineinlehnt, wie Josef sich zu Maria umwendet, wie deren Kopf angeschnitten ist, so dass man sich vorstellen kann, wie sie im nächsten Moment ganz sichtbar wird, wie die linke Hand des Alten am rechten Bildrand in der Bewegung erstarrt, das alles lässt das Bild als unruhig erscheinen. Dazu tragen auch das durch das hohe Fenster im Hintergrund verursachte Gegenlicht sowie die starken Lichtreflexe auf den Kleidern bei. Die durch die Komposition und die Lichtführung verursachte Unruhe spiegelt das spannungsvolle Geschehen im Zentrum des Bildes, dem wir uns nun erneut zuwenden.

Spannung steckt bereits in der Haltung Jesu. Breitbeinig steht er da, der rechte Fuss beschreibt einen kleinen Ausfallschritt. Der Körper ist leicht vorgebeugt, gespannt und gleichzeitig entspannt. Die Haltung und die Gestik der Hände bringen Engagement zum Ausdruck. Dazu kommt der klare und fokussierte Blick auf sein Gegenüber. Der Rabbiner hält dem Blick stand, man spürt: was Jesus sagt, lässt ihn nachdenken. Zwischen den beiden findet ein Dialog auf Augenhöhe statt. Sie hören einander zu und reden miteinander, so wie es in Lk 2,46 heisst: „Und es geschah nach drei Tagen, dass sie ihn fanden, wie er im Tempel mitten unter den Lehrern sass und ihnen zuhörte und Fragen stellte.“ Jesus stellt in Liebermanns Bild schwierige Fragen, die sein Gegenüber nachdenklich stimmen. Auch der zweite Rabbiner im Hintergrund ist verstummt. Doch wird sich möglicherweise der Mann im grünen Hemd hinter Jesus als nächster einbringen und seinerseits Jesus eine Frage stellen oder ein Argument einbringen.

Das Zuhören und Fragenstellen ist in Liebermanns Bild verdichtet in den Gesichtern und Blicken der drei Personen im Zentrum sowie in der Gestik ihrer Hände. Zwischen den Köpfen und den Händen der drei ist im Zentrum leerer Raum. In ihm entfaltet sich das Gespräch. Um den Fokus auf dieses Gespräch zu richten, lässt Liebermann Jesu Gesicht im Schatten und setzt den hellsten Lichtakzent in die Mitte der drei Diskutierenden. Im Zentrum des Bildes steht nicht der erleuchtete, aus sich heraus strahlende Jesus, nein, im Mittelpunkt des Bildes ist das Gespräch zwischen Jesus und den beiden Rabbinern: ein Gespräch zwischen drei authentischen Gesprächspartnern. Jesus überzeugt durch seine kindliche Natürlichkeit und Spontaneität, die Lehrer überzeugen durch die Ernsthaftigkeit, mit der sie Jesus zuhören.

In den Darstellungen der Geschichte des zwölfjährigen Jesus im Tempel, die vom Frühen Christentum bis in die Gegenwart reichen, lassen sich im Wesentlichen zwei Typen unterscheiden: der Lehrtypus und der Diskussionstypus. Liebermanns Bild folgt dem zweiten Typus. Der Lehrtypus, der grössere Verbreitung fand als der Diskussionstypus – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts finden wir ihn etwa bei Julius Schnorr von Carolsfeld in seiner Bilderbibel oder bei Adolf von Menzel –, zeichnet sich dadurch aus, dass Jesus nicht zuhört und nicht Fragen stellt, sondern lehrt. Oft sitzt er bei diesem Typus auf einer Kathedra (einem Lehrstuhl), hält vor sich die Heilige Schrift und trägt einen Heiligenschein. Indem er mit der einen Hand auf die Schrift und mit der anderen Hand zum Himmel zeigt, weist er auf seine doppelte Autorität als Schriftgelehrter und Sohn Gottes hin.

Das Bild Liebermanns lässt mich fragen, ob die Art und Weise, wie sich Jesus hier mit den Lehrern über die Schrift austauscht, ein Modell für die Predigt sein könnte. Ist es nicht so, dass Predigten in der Regel dem Lehrtypus folgen, indem die Pfarrperson in einem Monolog über die Schrift nachdenkt und sie auslegt? Natürlich kann man rhetorische Formen von Frage und Antwort einfliessen lassen, narrativ predigen etc., doch ergibt dies wirklich ein Gespräch mit den Anwesenden? Was würde es heissen, so wie Jesus in Liebermanns Bild zu predigen? Es würde wohl heissen, sich an die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel zu erinnern, wie sie im Lukasevangelium erzählt wird, gemäss der Jesus nicht gelehrt, sondern zugehört und Fragen gestellt hat. Es würde heissen, die Predigt als Gespräch zu praktizieren, als Gespräch mit einem Gegenüber, auf Augenhöhe. Statt sich an die ganze Gemeinde zu wenden, würde man vielleicht mit diesem oder jenem Gemeindemitglied in einen Austausch treten. Es würde bedeuten, die Predigt als bewegendes und spannungsvolles Ereignis zu begreifen, die niemanden unbeteiligt lässt, die zum Nachdenken führt, zu Widerspruch, zu Zweifeln, zu Erkenntnis. Es würde heissen, mit Engagement und Neugier das Gegenüber verstehen zu wollen. Es würde bedeuten, authentisch zu sein, seinem Alter entsprechend aufzutreten, jugendlich frisch oder mit einer reichen Lebenserfahrung, unorthodox oder orthodox, und aus sich heraus zu sprechen. Es würde heissen, sich verständlich zu machen, unter Einsatz des ganzen Körpers, des Sprechens, des Blicks, der Hände. Und es bräuchte einen Raum, der nicht getrennt ist in das Schiff für die Gemeinde und den Chor (mit Kanzel und Rednerpult) für die Liturgin, den Liturgen. Der Situation in Liebermanns Bild würde eine Kirche oder ein Raum entsprechen, in dem man nahe beieinandersitzt, so, dass man sich gegenseitig sieht. In dem Platz ist für weitere, die noch dazu stossen wollen. Und in dem es eine offene Mitte gibt: Raum für das Zuhören, das Fragenstellen, das Gespräch. Die Konsequenz dieser Art zu predigen könnte sein, dass der Gottesdienst zu einer Art Bibelstunde wird. Nicht zwingend, aber wenn doch, warum nicht? Wie schon immer stehen heute schwierige Fragen im Raum. Es besteht Gesprächsbedarf. Nehmen wir das Gespräch auf: authentisch, natürlich, engagiert, auf Augenhöhe, mit der Bereitschaft, zuzuhören und Fragen zu stellen.

Johannes Stückelberger ist Dozent für Religions- und Kirchenästhetik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern und Titularprofessor für Neuere Kunstgeschichte an der Universität Basel


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Kommentare

Eine Antwort zu «Predigt als Gespräch»

  1. Avatar von David Plüss
    David Plüss

    Vielen Dank für die anregende Bildanalyse! Ich bin immer wieder fasziniert, wie viel einem ein Bild erzählt, wenn man sich Zeit nimmt und es sprechen lässt. Oder genauer: wenn ein kundiger Interpret eine engagierte, in die Gegenwart zielende Exegese vornimmt. Der Vergleich mit der Predigt drängt sich geradezu auf: Wenn eine geistreiche Interpretin einen Bibeltext dadurch aufschliesst, dass sie ins Einzelne geht, mein Vorverständis irritiert – und dabei theologische Formeln meidet oder neu und anders verstehen lässt, hat die Predigt eine Zukunft! Eine solch detailgenaue und geistreiche Interpretation scheint mir für Reaktionen, Rückfragen und Dialoge jedenfalls anregend zu sein.

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