Lunch Liturgy

In diesem Blog geht es um einen Gottesdienst, der an Feiern von befreiungstheologisch geprägten Basisgemeinden Lateinamerikas der 1980er Jahren erinnert: partizipativ, schlicht, mit freien Beiträgen und verbunden mit einem gemeinsamen Essen – nicht im Anschluss an die Feier, sondern als integraler Bestandteil derselben.

David Plüss

Sonntagmittag im holländischen Groningen Ende März 2023. Der grosse Raum im Quartierzentrum füllt sich allmählich mit Menschen jeden Alters, wobei Kinder und Jugendliche in der Überzahl sind. Auch das mittlere Alter ist gut vertreten. Bis auf eine ältere Dame fehlen die Betagten. Dies ist nur darum bemerkenswert, weil hier gleich Gottesdienst gefeiert wird, alle dies wissen und just deshalb gekommen sind. Das Quartierzentrum gehört nicht der Stadt, sondern der Kirche. Wir befinden uns in einem kirchlichen Mehrzweckraum in einer vor zwanzig Jahren gebauten und kulturell durchmischten Siedlung am Rand von Groningen. Dass wir uns in einem auch liturgisch genutzten Raum befinden, erkenne ich erst auf den zweiten Blick – aufgrund farbiger Scheiben in einem der Fenster. Zunächst fallen mir in mehrere Quadrate angeordnete Tische mit Stühlen auf. Vorne ist eine Leinwand aufgespannt, davor ein Tisch. Seitlich im Raum steht Essen auf Tischen bereit: Suppe, Brot, weich und geschnitten, dunkel oder hell, dazu Rosinenbrot, Marzipanstollen, Käse, Salami, Rührei, Aufstrich, Tee und Kaffee. Man begrüsst sich herzlich, nimmt sich eine Tasse Tee oder Kaffee und setzt sich dann an einen der Tische. Ich werde von meinem Kollegen, der mich hergebracht hat und zu dieser Gemeinde gehört, gebeten, doch nicht an den Tisch der Jugendlichen zu sitzen, denn es gäbe eine etablierte Sitzordnung. Wie andernorts auch. Der Pfarrer der Gemeinde, der während der Woche gemeinsam mit Freiwilligen Aktivitäten für Kinder und Jugendliche anbietet – Sport und Spiele, Unterstützung bei Schulaufgaben, Kreatives –, begrüsst. Er begrüsst knapp und eröffnet das gemeinsame Essen mit einem kurzen, freien Gebet. Dann bedienen sich alle mit Suppe, Brot, Käse, Wurst und Tee, man setzt sich wieder an die Tische, isst und unterhält sich, bis jemand mitteilt, es sei nun Zeit zum Abräumen. Mehr als die Hälfte der Anwesenden steht auf und macht sich an die Arbeit: Übriges Essen und Geschirr wird in die Küche getragen, Tische werden gereinigt. Danach setzen sich wieder alle an ihren Platz. Seit der Begrüssung ist etwa eine halbe Stunde vergangen.

Benno van den Toren, Professor an der Theologischen Fakultät, an der ich zu Gast war, leitete durch den zweiten Teil der Feier. Erst spielte er per Beamer und YouTube die Aufnahme eines fröhlichen Danklieds ein, vorgetragen von einem Kinderchor. Es ersetze den Gemeindegesang, wird mir im Anschluss erklärt. Denn Singen sei in dieser Gemeinde nicht möglich. Viele der Beteiligten seien zu kirchenfern oder könnten nicht lesen. Darum werden Lieder eingespielt: religiöse Gesänge, zum Teil auch säkulare Popsongs, passend zum Thema. Manchmal sängen die Anwesenden mit, diesmal nicht. Dann projiziert Benno van den Toren ein Bild, eine durch einen Künstler gefertigte Illustration des Themas der folgenden Ausführungen: eine Symbolisierung des Heiligen Geistes. Für die Kinder liegen Kopien der Illustration und Farbstifte auf den Tischen zum Ausmalen bereit, was, soweit ich sehe, von fast allen auch eifrig getan wird. Benno fragt die Anwesenden, was ihnen denn zur Illustration einfalle und wie sie die verschiedenen Elemente deuten würden. Viele beteiligen sich spontan, Kinder und Jugendliche noch mehr als die Erwachsenen, die den Kindern den Vortritt lassen. Es folgt ein weiterer religiöser YouTube-Popsong, ruhiger als der erste, ein Anbetungslied. Der Kollege spricht danach etwa zwanzig Minuten. Grundlage seiner Ausführungen ist der Pfingstbericht aus der Apostelgeschichte, Kapitel 2, in voller Länge und die projizierte Illustration. Er spricht frei und engagiert, spielt Vergleiche und Beispiele aus seinem Leben ein und provoziert Lachen und spontane Kommentare. Danach sammelt er Gebetsanliegen aus der Runde. Diese werden spontan und ohne Zögern genannt, von Jugendlichen und Erwachsenen. Die meisten der genannten Anliegen sind der Gemeinde bekannt, wie ich im Anschluss erfahre, denn sie ist über einen WhatsApp-Chat verbunden, in dem die Mitglieder einander wichtige Ereignisse, Sorgen und Nöte mitteilen und um Gebet bitten. Benno nimmt die vorgebrachten Anliegen in ein frei formuliertes Gebet auf und beschliesst die Feier mit einem weiteren YouTube-Song. Nach anderthalb Stunden ist der Lunch-Gottesdienst zu Ende.

Auffallend war für mich die Altersdurchmischung der Gemeinde und die rege Beteiligung. Es ist eine Art Basisgemeinde, die hier zusammen feiert. Man kennt sich, teilt das Leben, unterstützt sich. Eine formelle Mitgliedschaft gibt es nicht. Ob die Anwesenden Mitglieder der Protestantse Kerk in Nederland sind, ist den Verantwortlichen nicht bekannt. Mitgliedschaft soll, wenn es nach ihrem Willen geht, auch nicht formalisiert werden. Die wöchentliche Lunch-Gottesdienste gibt es seit Corona. Der Wunsch nach wöchentlichen Feiern wurde von den Teilnehmenden geäussert. Die Form wird immer wieder angepasst und nachgebessert. Die Reformierte Kirche von Groningen stellt ein Budget für das Essen bereit. Freiwilligenteams kaufen ein und bereiten den Lunch vor.

Mein Fazit: Eine eindrücklich niederschwellige, integrierende, pragmatische, partizipative und in hohem Masse gemeinschaftliche Weise, Gottesdienst zu feiern! Mit einer tief gehängten Liturgie, die in Bewegung ist, immerzu verändert wird. Liquid liturgy gewissermassen.

Prof. Dr. David Plüss, lehrt Homiletik, Liturgik und Kirchentheorie an der Theologischen Fakultät der Universität Bern und Co-Leiter des Kompetenzzentrums Liturgik.


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