Heart Space – ein liturgisches Tanzritual

Der Begriff „liturgischer Tanz“ kann eine Reihe von Assoziationen wecken – von New Age inspirierten Gruppenritualen bis hin zu experimentellen Ausdrucksformen auf Gemeindeebene. Auch professionelle Tänzer und Theologen haben versucht, sich dem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven zu nähern. Das Ergebnis einer solchen Kooperation ist das Projekt „Heart Space“ das im Folgenden kurz vorgestellt werden soll.

Edda Wolff

Heart Space (https://artistictheologylab.com/2023/10/19/heart-space-23-november-st-walburgiskerk-antwerpen/)

„Heart Space“ ist eine innovative und experimentelle Aufführung an der Schnittstelle von liturgischem Ritual und expressivem Tanz. Das Projekt versucht Grenzen traditioneller liturgischer Praktiken zu erweitern und neu interpretiert. Es entstand in Zusammenarbeit mit der Theologin Marianne Servaes und wurde am 30. März 2023 in Leuven uraufgeführte. Es thematisiert den Prozess der Auseinandersetzung mit kirchlicher Verletzung und der Suche nach Wegen zur Heilung einer zerrütteten Beziehung zur Kirche. Die Einbettung von Servaes› persönlicher Geschichte verleiht dem Projekt Authentizität und öffnet einen Dialograum für individuelle und kollektive spirituelle Erfahrungen.

Durch liturgische Performance, Tanz und Bewegung möchte „Heart Space“ explizit Heilungsprozesse initiieren. Die Choreografie führt die Teilnehmenden durch eine narrative Struktur, die nicht auf einer linearen Erzählung basiert, sondern vielmehr auf der Schaffung von Bildern und Assoziationen, welche die Ambivalenz spiritueller Erfahrungen in den Vordergrund stellt.

Die Performance bricht bewusst mit konventionellen liturgischen Formaten und sucht nach einem neuen Ausdruck liturgischer Praxis, der die Komplexität menschlicher Spiritualität und die Suche nach Versöhnung reflektiert. Geleitet vom Tanz schafft sie einen sicheren Raum – für Publikum und Darsteller. Die Choreografie bewegt die Teilnehmenden in der Liturgie durch Momente des Schmerzes und des Widerstands und begleitet sie auf der Suche nach Geborgenheit unter der Kälte der Kirchensteine. Die Aufführung schafft Ambivalenz ohne klare Antwort. Es wird keine Geschichte erzählt, nur Bilder geschaffen und Assoziationen geweckt.

Heart Space wird von fünf Darstellern aufgeführt: zwei Tänzern, eine „Wortschmiedin“, einem Theologen/Sänger und einem Priester – alle sind in weisse Gewänder gekleidet, der Priester ist durch eine Stola erkennbar. Sie drücken unterschiedliche Handlungsstränge aus, die in diesem Raum zusammenlaufen – Nach einen feierlichen Einzug stellen sich alle Darsteller in einen Kreis auf wobei sie nach aussen gewandt sind. Einer der Tänzer bricht langsam zusammen. Diese Bewegung stellt den Auslöser für alle weiteren Aktionen dar.

Der Einsatz dieser unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksformen innerhalb des liturgischen Rahmens eröffnet ein Feld für vielschichtige Interpretationen und Identifikationsmöglichkeiten für das Publikum. Durch diese multidimensionale Darstellung werden die Teilnehmenden eingeladen, eigene spirituelle Erfahrungen und Verletzungen zu reflektieren und einen Raum für Heilung und geistliche Erneuerung zu schaffen.

Das Ritual gipfelt und findet seinen Abschluss in einer außergewöhnlich gestalteten Eucharistiefeier, bei der als Altar eine Anordnung niedriger Kissen dient, über die sich der Priester, auf einer ebenso niedrigen Bank sitzend, neigt.

Die Zeremonie zeichnet sich durch eine bewusste Reduktion der traditionellen Gesten einer katholischen Messe aus, wodurch die rituellen Handlungen eine gesteigerte Deutlichkeit und Prägnanz erhalten. Die Zuschauer sind eingeladen, gemeinsam mit den Akteuren an der Kommunion teilzunehmen, wobei auffällt, dass der Hauptdarsteller selbst von der Kommunion fernbleibt. Diese Gestaltungselemente erzeugen eine tiefgründige und vielschichtige Atmosphäre, in der grundlegende menschliche Themen wie Schuld, Opfersein, Täterschaft, Versöhnung, Gemeinschaft und Solidarität in neuem Licht betrachtet und erfahrbar gemacht werden. Eine besonders nachhaltige Wirkung hinterließ bei mir die Szene des Friedensgrusses, während der der Hauptdarsteller regungslos am Boden verweilt, was die Ambivalenz und Komplexität der dargestellten Beziehungen und Emotionen unterstreicht.

Das Vor- und Nachgesprächen der Aufführung sind ein integraler Bestandteil des Projekts, das einen fortlaufenden Dialog über die Themen der Aufführung zu fördern möchte. Dieser Austausch bietet den Teilnehmenden die Möglichkeit, ihre Erfahrungen zu teilen und reflektiert damit die performative Praxis als einen Prozess, der über das unmittelbare Ereignis hinaus- und in die Lebenswirklichkeiten der Beteiligten hineinwirkt.

Ich hatte die Gelegenheit, die Aufführung von «Heart Space» durch einen Video-Mitschnitt kennenzulernen und durch einen ausführlichen Austausch mit einem der Darsteller vertiefte Einblicke über dessen Entwicklung und Realisierung zu gewinnen. Während die Beobachtung durch die Linse einer Kamera unweigerlich bestimmte Aspekte, die zur Gesamtatmosphäre und zum dynamischen Geschehen beitragen, nicht vollständig einfangen kann, eröffnet sie doch auch besondere Perspektiven. So rücken Details ins Blickfeld, die in der Live-Situation möglicherweise im Verborgenen bleiben würden. Zudem bietet das Format die Möglichkeit, spezifische Sequenzen zu pausieren, zu wiederholen oder sogar als Standbilder genauer zu betrachten, wodurch ein tieferes Verständnis und eine intensivere Auseinandersetzung mit einzelnen Momenten der Aufführung ermöglicht werden. Diese dualen Erfahrungen – das Vermissen der unmittelbaren Atmosphäre einer Live-Aufführung und das Entdecken neuer Einsichten durch die Möglichkeit zur fokussierten Betrachtung – bereichern die Wahrnehmung und Interpretation des Werkes auf einzigartige Weise.

Insgesamt spiegelt «Heart Space» das Potenzial von Kunst wider, als Medium für tiefe persönliche und kollektive Erkundungen zu dienen. Ich habe das Projekt als ein faszinierendes Beispiel dafür erlebt, wie die Verschmelzung von Tanz, Theologie und Ritual einen kraftvollen Raum für Auseinandersetzung, Reflexion und Heilung schaffen kann. Ein solches Projekt weckt Fragen zu Grenzen und Möglichkeitsräumen der Liturgie: Wie können liturgische Elemente neu erfahren, verfremdet und reintegriert werden? Wo verläuft die Grenze zwischen Gottesdienst und Kunst? Wie kann ein künstlerischer Blick auf Liturgie helfen, bestimmte Elemente theologisch tiefer zu reflektieren? Wie kann das pastorale Potenzial der Liturgie zum Ausgangpunkt für einen kritisch-konstruktiven Umgang mit kirchlichen Strukturen werden?


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Kommentare

Eine Antwort zu «Heart Space – ein liturgisches Tanzritual»

  1. Avatar von Martina Schwarz
    Martina Schwarz

    O, wie toll und spannend klingt das denn! Würde gerne mehr darüber erfahren! Vielen herzlichen Dank! #theopoetics!

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