An einem Ort, der dies in keiner Weise erwarten liess, vollzieht sich regelmässig eine bestimmte Liturgie. Ohne beurteilen zu wollen oder zu können, ob diese religiös grundiert ist, fasziniert mich als Praktische Theologin das rituelle Geschehen vor Ort. In diesem Beitrag schildere ich meine Beobachtungen in Iseltwald am Brienzersee, dessen kleiner, unscheinbarer Bootssteg als Schauplatz einer koreanischen Serie weltweite Berühmtheit erlangt hat.
Miriam Löhr
Der Ort
Anfahrt mit dem Schiff über den Brienzersee. Tourist*innen, viele in Paaren oder kleinen Gruppen, strömen an Deck der zweiten Klasse mit dem Blick Richtung Bug. Sie zücken ihre Handys, viele wirken aufgeregt, eine Spannung liegt in der Luft. Eine Frau sagt zu einer anderen: There it is! – Crash landing on you, antwortet die andere. We only came for that! Das historische Dampfschiff nähert sich dem Ufer. Ein paar ältere Holzchalets, der Schiffsanleger, und sonst eigentlich nichts. Kein Souvenirshop, keine Pommesbude, keine Musik. Rechts ganz klein, überraschend klein, ist DER Bootssteg zu sehen. Eine junge Frau posiert auf dem Steg am Wasser, eine andere fotographiert sie mit dem Blick Richtung See. Der Bootssteg ist vom Land getrennt durch ein Drehkreuz. Nicht wenige Personen lagern davor und warten in der Sonne. Wie lange man wohl auf dem Steg bleiben darf? Das Schiff hält. Tourist*innen strömen von Deck. Ich steige ebenfalls vom Schiff und beobachte die Szenerie.
Die Serie
Was sich in Iseltwald beobachten lässt, hat seinen Ursprung in einer in vielen asiatischen Ländern populären südkoreanischen Serie,[1] erschienen in den Jahren 2019/2020: Crash Landing on You. Sie erzählt von der Beziehung einer jungen Südkoreanerin und einem jungen Nordkoreaner, die sich mehrfach in der Schweiz als für sie freiem Ort begegnen. In einer Szene spielt der Protagonist an jenem Bootssteg auf dem Klavier. Seit dem grossen Erfolg der Serie reisen Fans nach Iseltwald und fotographieren sich gegenseitig am Originalschauplatz der Szene.
Die Praktiken
Mich interessiert in diesem Blog weniger die Erzählung der Serie als vielmehr die Praktiken, die sich daraufhin etabliert haben: Menschen reisen per Schiff oder Postauto an. Sie stellen sich geduldig vor dem Steg auf und warten – Sitzgelegenheiten gibt es zwar, aber kaum Schatten. Seit dem touristischen Ansturm müssen an einem Drehkreuz, das den Steg vom Ufer trennt, fünf Franken gezahlt werden. Ein Hinweisschild klärt über die Massnahme auf. In ritualtheoretischer Perspektive liesse sich sagen: Der Steg hat auf diese Weise eine Schwelle erhalten.
Auf dem Steg geschieht Folgendes: Paare, Freund*innen, auch Familien über drei Generationen betreten den Steg. Sofort stellt oder setzt sich eine Person vorne an den Rand des Holzstegs, so als gäbe es ein Skript, das die Position auf dem Steg bestimmt, ebenso die Körperhaltung – meist die Arme ausgestreckt in die Weite. Nach der oft ausgiebigen Fotosession wird gewechselt, und die Freundin oder der Partner ist an der Reihe. Alles geschieht in einer konzentrierten Ruhe. Dann öffnet sich das Drehkreuz, und die nächsten wechseln die vorherige Gruppe ab. Diese Praktiken unterscheiden sich von denen an anderen touristisch stark frequentierten Orten: Zwar kennzeichnet Filmen und Fotographieren diese generell, jedoch verfügen nicht alle über eine «Liturgie» wie in diesem Fall. Anders gesagt: Wer zum ersten Mal auf dem Bundesplatz in der Berner Altstadt steht, fotographiert wahrscheinlich das Bundeshaus, folgt jedoch nicht einem unausgesprochenen kollektiven Ablauf.
Die Liturgie
Was interessiert nun eine Praktische Theologin an diesem Szenario, das fernab von «Religion» vollzogen wird? Der Sinn der Praktiken am Bootssteg erschliesst sich von aussen nicht – der Blick auf den See und die Bergkette ist zwei Meter neben der Zahlschranke genauso gut. Dennoch entfaltet sich in der Beobachtung ein ritualtheoretisch vielschichtiges Begehen einer Fangemeinde. Es sind folgende Aspekte:
- Die Ernsthaftigkeit des Vollzugs. Die Wartenden wirken ruhig, konzentriert und unbeirrt von anderen Aktivitäten um sie herum.
- Die Routiniertheit des Vollzugs. Die Choreographie des Kollektivs ist klar – obgleich die meisten mutmasslich zum ersten Mal an diesem Ort sind, hat sich ein ritualisierter Ablauf entwickelt: mehr eine repetitiv erscheinende Inszenierung als eine spontane Improvisation, obwohl sie nicht eingeübt ist. Die Angereisten wissen offenbar genau, was zu tun ist – ohne dass es eine offizielle Vorbereitung oder eine Anleitung vor Ort gäbe.
- Die Eigenständigkeit der Praktiken auf dem Steg: Es wird keine Filmszene nachgestellt. Die Serie legt die ausgelassenen, fröhlichen Foto-Praktiken an diesem Ort gerade nicht nahe, in der Sequenz der Serie dominieren vielmehr der Abschied und die Trauer des Protagonisten über seine aufgegebene Karriere als Pianist.
- Die Praktik des Wartens als Teil des Ganzen. Niemand beschwert sich, dass das Warten dauert, dass die Sonne brennt, dass fünf Franken zu zahlen sind, und gleich die nächsten auf den Bootssteg strömen.
- Zugleich entsteht eine Wartegemeinschaft, die auf gegenseitiger Wahrnehmungswahrnehmung und dem geteilten Bezugspunkt der Serie basiert. Die körperliche Anwesenheit anderer Fans erscheint als Teil des Gesamtrituals, auch wenn die eigentliche Fotosession als Höhepunkt der Liturgie nur mit den Angehörigen der eigenen Gruppe vollzogen wird.
- Die individuelle Gestaltung des Rituals – Paare, Freund*innen, Familien, die sich offenkundig besonders gekleidet haben und während ihrer Fotosession unter sich bleiben, – und das dennoch in einer Art Kollektiv.
- Die Tatsache, dass Menschen vom anderen Ende der Welt anreisen, um an diesem Ort ein Foto aufzunehmen.
- Die Verbindung einer digital verfügbaren Serie mit einem physischen Ort: Es reicht offenbar nicht, die Folgen anzuschauen, der Ort erfordert ein persönliches Aufsuchen. Die Fotographien werden wiederum digital in die Welt gesandt.
- Der Bootssteg wird auf diese Weise zu einer Art Pilgerstätte, die digitale Praktiken des Serienschauens mit dem physischen Aufsuchen des konkreten Ortes verbindet – was wiederum in Form der Aufnahmen digital zurückgespielt wird.
- Der Iseltwalder Bootssteg mit seiner ohnehin eindrücklichen Bergkulisse wird mit einer zusätzlichen Bedeutung aufgeladen, die er ohne die koreanische Serie nicht hätte.
- Das Zahlschranken-Drehkreuz, das neben Hinweisschildern als einziges Artefakt vor Ort auf die Serie hinweist, steht in einem gewissen Widerspruch zur unverfügbaren, «wilden» Landschaft. Als Schwelle entfaltet es ritualtheoretisch wiederum eine Funktion.
- Die Praktiken am «Pilgerort» stiften Sinn, gerade weil sie individuelle und digital nachhaltig zugängliche Artefakte erzeugen, und zugleich Gemeinschaft mit anderen Fans vor Ort – digital vermittelt sogar weltweit – schaffen.
Aufgefallen ist mir zudem, dass eine beobachtende Rolle wie meine die Feierlichkeit des Rituals nicht stört. Im Gegenteil, zum Ablauf scheint vielmehr dazuzugehören, nach dem Fotoshooting wiederum die anderen zu beobachten. So entsteht eine sich wiederholende Choreographie zwischen den Fans der Serie, Spaziergängerinnen mit Hunden, den wenigen Anwohnern und einigen Velofahrerinnen, die einander wohl sonst nicht begegnet wären. Der gemeinsame Nenner ist der Steg am See, der sich zu einer «Pilgerstätte» verdichtet und ein eigenes Ritual hervorgebracht hat.
Fotos: M. Löhr
[1] Hinweise zum sprachlichen und kulturellen Kontext verdanke ich Lara A. Kneubühler.
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