Liquide Präsenz in einer Megachurch in Princeton, USA
Es ist der Morgen des 14. Juli, der Tag nach dem Attentat auf Donald Trump. Was wohl an diesem Morgen in evangelikalen Kirchen gepredigt wird? fragen wir uns am Frühstückstisch. Die Internetsuche «Megachurch in Princeton» führt uns zur Liquid Church. Nie gehört. Gottesdienst jeden Sonntag 9:30 und 11:30 Uhr. Heute zum Thema «Jesus and Politics». Passt.
Carsten und Katharina Heyden
für David Plüss, den Wanderer, zum 60. Geburtstag
Auf dem weitläufigen Parkplatz weisen uns junge Leute in grünen Warnwesten ein, das hospitality-team, wie wir später erfahren werden. Noch ist das Gelände allerdings leer. John eskortiert uns persönlich zum Eingang, wo uns ein Blatt in die Hand gedrückt wird: «What can you expect today?» Die Band mit ein paar Liedern, Pastor Tim mit einer inspirierenden Botschaft, das Campus Team mit einem Hello, und ein Abendmahl. Für letzteres werden wir mit einem Plastikset ausgestattet, Minioblate und ein Schluck Wein aus einer Milchkapsel.
In der Kirche, die einem Kinosaal gleicht, laufen Werbefilme über drei riesige Leinwände, der Countdown rechts oben steht bei 5:54 min bis zum Beginn. Im Saal befinden sich vielleicht vierzehn Personen, der Kameramann und die fünf Bandmitglieder in der vordersten Reihe mitgezählt. So also sieht es in einer Megachurch im Sommer aus.
Liquid Church wurde 2007 von einem Ehepaar gegründet, um «den Staat New Jersey mit der Botschaft von Jesus Christus zu durchtränken«, wie es in der Selbstvorstellung heisst. Die überkonfessionelle Gemeinschaft gehört zu den hundert am schnellsten wachsenden christlichen Kirchen in den USA. Wie viele Megachurches hat auch Liquid es sich zum Programm gemacht, die politische gespaltene Nation zusammenzuhalten, die gerade in diesen Wahlkampfzeiten so brisante Verknüpfung von Religion und politischer Parteinahme zu überwinden. So ist denn auch die Hauptbotschaft der Predigt: Missbrauche Jesus nicht für politische Zwecke. Don’t highjack Jesus for politics! Er war weder Demokrat noch Republikaner. Soweit die Antwort auf unsere Frage am Frühstückstisch. Ebenso erleichternd wie verwirrend, dass Kirchen wie diese nicht einfach in politische Schubladen passen.
Aber nicht das ist es, was uns nachhaltig an diesem Gottesdienst beschäftigen wird. Was uns nachhaltig bewegt, sind Fragen nach Präsenz, Aufmerksamkeit und Authentizität. Nachdem die Band pünktlich, aber in einer leeren Kirche begonnen hat, schlendern die Besucher scharenweise zu ihren Plätzen, viele mit Kaffeebechern in der Hand. Nach zehn Minuten sind rund zweihundert Menschen im Raum. Der Typ am Keyboard erzählt, wie absolutely shocked er war, als er vom Attentat gehört hat und dass Gewalt für ihn keinen Platz in diesem Land haben darf. Einige antworten mit Amen. War das gerade ein Gebet? Nach dem vierten Song betritt Campus-Pastor Lee die Bühne und begrüsst alle: hier könnt Ihr mitwirken. Schon flimmert über die Leinwände der Liquid Imagefilm. Noch einmal die Band, Liedtexte laufen über die Leinwände, manche singen mit, viele wiegen sich, und plötzlich steht Pastor Tim auf der Bühne vor dem leuchtenden Bigscreen.
Er füllt den Raum mit seiner Präsenz. Stimme, Gestik, Mimik, alles passt, nimmt einen mit, macht das Zuhören leicht. Humor und Tiefsinn, Bildung und Unterhaltung, alles beieinander und perfekt mit den Bildern und Texten auf den Bildschirmen abgestimmt. Kurze, klare, einfache Sätze. Immer wieder lässt er die Gottesdienstbesuchenden mitdenken, reden, wichtige Sätze mitsprechen und Gedanken wiederholen. Vielleicht ein wenig zu «amerikanisch», aber selten war eine Predigt so fesselnd. Faszinierend die Mischung aus Biblizismus und historischer Einordnung, aus Ernsthaftigkeit und Frohsinn. Und die absolut überzeugende Präsenz des Predigers.
Aber kann es sein, dass der Applaus und die Lacher nicht nur aus dem Gottesdienstraum kommen? Und warum passen die Schatten der Köpfe auf dem Bildschirm nicht zu den Köpfen der Menschen in der ersten Reihe? Es braucht über zwanzig Minuten, bis einer von uns bemerkt, dass Pastor Tim keine Füsse hat. Er läuft hin und her, während er redet, doch bleibt er immer am hinteren Bühnenrand. Kein Schritt nach vorne. Die Illusion fliegt auf. Der riesige Bildschirm in der Mitte wird eins mit dem polierten Bühnenboden. Der Typ ist gar nicht im Raum. Wir haben uns von einer perfekten Liveübertragung fesseln lassen.
«Wie lange hast du gebraucht, um zu merken, dass er gar nicht im Raum ist?» «Ähm, eigentlich… bis jetzt…» Tatsächlich: Pastor Tim hat keine Füsse. Er ist gar nicht hier!
Obwohl, eigentlich doch. Merkwürdigerweise ändert sich am Erleben seiner Person nichts durch die Einsicht, dass die Präsenz rein virtuell ist. Keine Minute nach unserer Erkenntnis sind wir wieder ganz bei der Predigt. Die anderen zweihundert im Raum haben es ja auch gewusst und sich dennoch auf den Dialog eingelassen, haben geantwortet, mitgesprochen und mitgelacht. Und nicht nur sie allein: An sieben Standorten in New Jersey feiern rund zweitausend Menschen zeitgleich diesen Gottesdienst und zwei Stunden später gleich nochmal. Alle erleben denselben Pastor Tim und kommunizieren mit dem Mann auf der Leinwand, als wäre er vor Ort. Das ist die Steigerung liturgischer Präsenz ins Omnipräsente. Ermöglicht durch die technische Perfektion in Übertragung, Vortrag und Inszenierung. Einer für alle? Hier werden unsere gewohnten Vorstellungen von Authentizität und liturgischer Präsenz genauso in Frage gestellt wie unsere Ansichten über gelingende homiletische Kommunikation.
Was wir erlebt haben, ist womöglich die perfektionierte Arbeitsteilung in einer hybriden Kirche. Vor Ort ist die Gemeinschaft leiblich spürbar: eine lokale Band, Freiwillige für alles und jeden, vom Parkplatz über den Kaffee bis zum persönlichen Gebet nach dem Gottesdienst. Die Aufgabe der Campus-Pastor:innen lautet: Communitybuilding, maximale Ansprechbarkeit, Verteilung der Aufgaben an die Freiwilligen. Die tun, was ihren Gaben und Interessen am besten entspricht: Autos einweisen, Ankommende begrüssen, Kaffee ausschenken, singen, beten, Schlagzeug spielen, den Livestream für die Internetcommunity filmen.
Das Zentrum des Gottesdienstes aber ist Pastor Tim. Der Mann ohne Füsse. Wir haben keine Ahnung, ob er überhaupt irgendwo live gepredigt hat. Möglicherweise haben auch alle sieben Gemeinden zeitgleich eine perfekt aufgezeichnete Inszenierung gesehen. Sorgfältig vorbereitet, im Studio eingespielt, professionell geschnitten und dann abgespielt, während Pastor Tim selbst sich bei einer kleinen Wanderung die Füsse vertritt. Das Werk eines hochprofessionellen Teams. Die perfekte Illusion für die Massen. Aber selbst das wäre für das eigene Erleben komplett egal. Diese perfektionierte Illusion schafft Wirklichkeit. Sie schafft liturgische Gegenwart. Es reicht, dem Prediger auf der Leinwand zu glauben, dass ich mit ihm in einem Raum bin.
Zu effektiv? Zu amerikanisch? Zu unpersönlich? Mag alles sein. Vor allem zu krass in der Fokussierung auf eine Person, in der absoluten Deutungsmacht und der Möglichkeit zur Massenmanipulation. Vielleicht wäre der hochcharismatische Pastor Tim in leiblicher Präsenz sogar zu präsent gewesen? Vielleicht hätten wir liberale Protestanten mit Freude an liturgischer Distanz uns bedrängt gefühlt, wenn er nicht nur von links nach rechts gewandert, sondern auch in der dritten Dimension auf uns zugekommen wäre? Vielleicht lag darin sogar der letzte Schliff dieser perfekten Hybridität: dass dieser charismatische biblizistische Prediger, der eine so ganz andere Vision vom christlichen Glauben verkörpert, uns nicht auf den Leib gerückt ist.
Carsten Heyden ist Verantwortlicher für Religionspädagogik bei der KOPTA, Theologische Fakultät der Universität Bern und Projektbeauftragter «Zukunft der KUW» bei den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn.
Prof. Dr. Katharina Heyden ist Ordentliche Professorin für Ältere Geschichte des Christentums und der interreligiösen Begegnungen an der Theologischen Fakultät der Universität Bern.
Aus oben genanntem Anlass veröffentlichen wir eine Reihe von Blogs auf liturgikblog.unibe.ch sowie auf theos.unibe.ch. Es sind Beiträge zu theologisch, bzw. religiös bedeutsamen Orten: auf theos sind es Orte in der Schweiz, auf dem Liturgikblog Orte aus aller Welt. Die Autor:innen – Kolleg:innen aus der Schweiz und aus dem Ausland – erkunden dabei die Verbindung von Orten, bzw. Landschaften einerseits und Religion, Spiritualität und Ritualität andererseits.
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