Kürzlich war das Berner Münster wie nur selten zu erleben: leergeräumt und ohne Bankreihen. Auch wenn die Autorin des Beitrags eher zurückhaltend ist, was die Veränderung historischer Räume und Artefakte angeht: Dieses Raum-Erleben hat überzeugt.
Miriam Löhr
Im Zuge grösserer Restaurationsarbeiten war das Gewölbe des Berner Münsters durch eine eingezogene Zwischendecke abgetrennt und von unten nicht sichtbar. Das gotische Gewölbe einschliesslich der Berner Familienwappen, jeweils etwa eine Tonne schwer, wurde restauriert und gereinigt, und nun, im Februar 2025, die begehbare massive Zwischendecke unter Einsatz eines eindrucksvollen Baugerüsts im Mittelschiff entfernt. Zurück blieb, für einige Tage, die leere, «bankfreie»[1] Kirche. Am Sonntagmittag war das Gebäude jedoch keineswegs leer. 100-200 Menschen flanierten zeitgleich durch den gesamten Raum, kamen und gingen, fotographierten, lauschten den Berichten von Architekt:innen, Restaurator:innen und Baumeister:innen und ihren neuen Erkenntnissen zu den Baukünsten des 16. Jahrhunderts, sprachen in kleinen Gruppen miteinander, schauten und entdeckten und setzten sich zum Beobachten der Szenerie in die bestehenden Bankreihen in den Seitenschiffen. Menschen unterschiedlichen Alters kamen, einige Tourist:innen, vielfach aber Berner:innen, die ihre Kirche in diesem besonderen Zustand sehen wollten. In der Luft lagen Neugier, Achtung gegenüber den alten und neuen Baumeister:innen, und eine Art Stolz. Erstaunlicherweise schien das Mittelschiff ohne die dunklen hölzernen Bankreihen kleiner, aber die Decke höher, ohne dass die unten Umherlaufenden dadurch «kleiner» wurden – im Gegenteil, die meisten Menschen wirkten frei, sich zu bewegen und umzusehen.
Überraschungen
Hätte ich vorher die Affordanz, den Aufforderungscharakter der Kirchenbänke, sich zu setzen und von dort her innezuhalten, aus praktisch-theologischer Perspektive als zentral eingeschätzt, wurde ich eines Besseren belehrt: Trotz der Bewegung im Raum war die Atmosphäre ruhig, aufmerksam, fast feierlich. Es schien mitnichten so, dass eine der praktischen Funktionen von Kirchenbänken, Menschengruppen zu «organisieren» und dem Geschehen im Kirchraum eine Ordnung zu geben, notwendig wäre. Auch meine Überzeugung, inkorporiertes Wissen helfe, sich in einem Sakralraum wie dem gotischen Münsterbau zu bewegen, wurde auf die Probe gestellt. Niemand schien verloren oder unsicher, niemand verhielt sich dem historischen Gebäude gegenüber unpassend. Vielmehr entstanden Begegnungen, Gespräche, persönliche Entdeckungen kleiner Details wie einer alten Tür, einer versteckten Inschrift oder einer bislang übersehenen Holzschnitzerei. Hier konnte man sich die Gottesdienste des Mittelalters vorstellen, in denen es üblich war, während der Feier nicht zu sitzen, sondern zu stehen und umherzugehen,[2] und in denen ohnehin an den unterschiedlichen Altären mehrere Feierhandlungen gleichzeitig stattfinden konnten. Auch die Kanzel stand plötzlich frei, prekär und präsent zugleich, und zog die Aufmerksamkeit in neuer Weise auf sich:
Und im Gottesdienst?
Was aber ist mit Gottesdiensten heute, wenn es im Hauptschiff keine Bänke hat? Nicht zufällig ist eine lebhafte und teilweise kontroverse Debatte um die Frage nach mobilen Bestuhlungen von Kirchen im Gange, und freilich bestehen unterschiedliche Motivationen und Modi der Raumwahrnehmung nebeneinander. Diese reichen von touristischen Besichtigungen des (kunst-)historischen Orts bis hin zu gezieltem Aufsuchen als Sakral- und Andachtsraum. Im Fall des Münsters erfuhr ich in einem spontanen Gespräch auf den Stufen zum Chor, dass der Gottesdienst am Morgen eben so gefeiert wurde – im leeren Hauptschiff ohne Bänke, mit Sitzgelegenheiten in den Seitenschiffen. Es sei sehr intensiv und lebendiger gewesen, weniger steif, und aus den vier Ecken habe der Chor gesungen, dona nobis pacem. Auch wenn die Bänke mittlerweile wieder Einzug ins Münster gehalten haben: Die temporäre Leere zeigte das trotz aller Vertrautheit immer wieder überraschende und vielfältige Potential, das historischen Kirchenräumen innewohnt.
Fotos: M. Löhr
[1] Die Formulierung des «bankfreien» Mittelschiffs fand sich auf der Website des Berner Münsters, auf der das begleitende Festprogramm vorgestellt wurde (Eintrag inzwischen digital nicht mehr verfügbar).
[2] Vgl. Deeg, Alexander/Plüss, David, Liturgik. Lehrbuch Praktische Theologie Bd. 5, Gütersloh 2021, 431.
Schreiben Sie einen Kommentar