Alte Kirchenlieder mögen uns manchmal wenig zu sagen haben. Aber dann, in besonderen Momenten, fangen sie an zu sprechen. Katrin Kusmierz nimmt einen Faden auf, den Stephan Jütte und Sibylle Forrer in einem RefLab-Gespräch zu Krieg und Hoffnung ausgelegt haben.
Katrin Kusmierz
Zu Beginn des Krieges in der Ukraine diskutierten Stephan Jütte und Sibylle Forrer in einem RefLab-Podcast-Gespräch darüber, was der Krieg in ihnen auslöst und was ihnen hilft, mit dieser Situation umzugehen. Dabei kommen sie auch auf Gottesdienste zu sprechen. Diese böten einen Raum, um Angstgefühlen, Kriegsrhetorik und Machtansprüchen gemeinsam etwas entgegen zu setzen. Stephan Jütte erzählt ausserdem, dass für ihn in dieser Situation die alten Kirchenlieder anders klingen: „Mit den alten Liedern können wir in eine Zeit zurück, der Krieg und Gewalt und bedrohtes Leben nicht so fern sind, sondern die mit ihnen rechnet. Irgendwie stellt einen das in eine Gemeinschaft mit den vielen anderen, die vor uns waren.“
Diese Bemerkung liess mich aufhorchen. Sie gibt möglicherweise eine Antwort darauf, wieso wir immer noch alte Lieder in Gesangbüchern speichern. Und wieso wir sie singen, auch wenn uns die Welten, in denen sie entstanden sind, fremd geworden sind und ihre Ausdrucksweise uns merkwürdig erscheint.
„Jesu, meine Freude, meines Herzens Weide, Jesu, meine Zier!
Ach wie lang, ach lange ist dem Herzen bange und verlangt nach dir.
Gottes Lamm, mein Bräutigam,
ausser dir soll mir auf Erden
nichts sonst lieber werden.“
(Reformiertes Gesangbuch, Nr. 659)
„Jesu, meine Freude“: Ein Klassiker des 17. Jahrhunderts. „Gottes Lamm, mein Bräutigam?“ Nicht unbedingt meine Worte, wenn ich mein Verhältnis zu Jesus beschreiben würde. Aber für einen Menschen, oder vielleicht auch zwei, drei oder mehr, waren sie einmal voll von Bedeutung.
„Trotz dem alten Drachen, Trotz dem Todesrachen, Trotz der Furcht dazu!
Tobe, Welt, und springe; ich steht hier und singe in gar sichrer Ruh.
Gottes Macht hält mich in Acht.
Erd und Abgrund muss verstummen,
ob sie noch so brummen.“
Da steht jemand und singt in vollkommener Ruhe. Um sie herum toben Sturm und Gewitter – so wird es in der zweiten Strophe erzählt. Und mitten drin schleudert die Person dem Tosen ihren dreifaltigen Trotz entgegen: „Trotz dem alten Drachen, Trotz dem Todesrachen, Trotz der Furcht dazu.“ Und: „Ob gleich Sünd und Hölle schrecken, Jesus will mich decken.“
Obwohl die Worte aus einer fernen Zeit ins Heute herüberklingen, sind sie gar nicht mehr so weit hergeholt. Der „alte Drachen“ ist geweckt, er faucht und speit Feuer – ein Teil der Kriegsmaschinerie. Und der Todesrachen tut sich auf, dort, in der Ukraine.
Der veränderte Kontext eröffnet andere Resonanzräume. Unter anderem für die Lieder, die aus einer Zeit entstammen, die von kriegerischen Auseinandersetzungen und dem damit verbundenen Leid, gekennzeichnet ist. Wie das Lied „Jesus, meine Freude“, in dem der dreissigjährige Krieg, der im 17. Jahrhundert Europa verwüstet hat, nachklingt.
Poetische Bilder, die lange geschwiegen haben, werden wieder beredt. Die alten Lieder mögen für eine Weile stumm geblieben sein, nichts-sagend, um dann, in einem bestimmten Moment wieder auf Resonanz zu stossen. Vielleicht deshalb, weil in ihnen ein Bedeutungsüberschuss eingelagert ist, der je nach Situation, je nach Gemütslage wieder neue Deutungsmöglichkeiten eröffnet. Eigentlich gut, dass wir diese Lieder aufbewahrt haben, dass man sie für merk-würdig gehalten hat. Und gut, dass wir Lieder in unserem Repertoire haben, die eine Vielfalt an Erfahrungswelten abbilden.
Das heisst allerdings nicht, dass die Rezeption dieser alten Lieder nun plötzlich ganz ungebrochen möglich wäre. Und dass sich mit dem ersten Resonanzeffekt auch sogleich die völlige Identifikation mit den damaligen Singenden einstellte. Ergreift mich dieselbe Ruhe, dasselbe Vertrauen, von dem das Ich im Lied singt? Nicht unmittelbar, nicht sofort. Nicht ohne dass ein „Aber“ mitschwingt, das weiss, dass sich im Angesicht von Drachen und Todesrachen anstelle des Gottvertrauens auch das Gefühl der Gottverlassenheit einstellen könnte.
Alte Lieder singt man nicht alleine. Sie sind ein Geschenk vorheriger Generationen an uns. Im Gesang klingen die Stimmen jener mit, die sie vor langer Zeit gedichtet und gesungen haben. Und vielleicht bleibt beim Singen etwas von ihrem Vertrauen, ihrer Zuversicht und ihrem Trotz an den Spätergeborenen haften. Damit auch sie den Drachen etwas entgegen zu setzen haben.
Katrin Kusmierz, Geschäftsführerin des Kompetenzzentrums Liturgik
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