Die Liturgie des Velofahrens
Velofahren und Gottesdienstfeiern sind soziale Praktiken. Sie sind vielfältig und verändern sich fortwährend. Im Fokus dieses Blogs steht die soziale Praxis des Velofahrens in Groningen, einer Universitätsstadt im Norden der Niederlande. Es ist der erste Blog einer Serie über die feinen oder erstaunlich grossen Unterschiede sozialen und liturgischen Handelns in den reformierten Kontexten der Niederlande und Schottlands.
David Plüss
Als ich, aus der Schweiz kommend, im niederländischen Groningen aus dem Zug stieg und den Weg zu meinem Hotel quer durch die Innenstadt unter die Füsse nahm, staunte ich: Überall Velos! Überall stehen sie, überall fahren sie. Nicht schnell, nicht aggressiv, aber dicht. In Scharen oder Schwärmen, die nicht zusammenbleiben, sondern sich fortwährend in unterschiedliche Richtungen aufteilen und neuformieren. Zwar sind Rad- und Gehwege markiert, aber als Ortsunkundiger musste ich das Regime erst begreifen, was auch darum nicht einfach war, weil ich die Feinheiten der holländischen Verkehrsregeln nicht kenne. Zudem scheinen die Velofahrerenden hier Verkehrsregeln eher als Empfehlungen und jedenfalls frei zu interpretieren. Als Fussgänger mit grossem Koffer war ich in der Innenstadt Groningens zudem ein Hindernis und herausgefordert, mich geschickt in die Velodynamik einzuschleusen, sodass ich das Schwärmen und Fliessen nicht allzu sehr störte. Zum Glück hatte ich während meiner Stadtdurchquerung keinen Unfall. Auch kein genervtes Klingeln oder Schimpfen war zu hören. Auf Kreuzungen fahren alle gleichzeitig. Und auch hier ohne Drängeln oder Schimpfen. Was mich besonders frappierte: Viele Velos haben keine Bremsen. Zumindest keine sichtbaren. Gebremst wird mit Rücktritt oder Füssen. Das Auffälligste jedoch: Die Velos sehen auffällig anders aus als bei uns! Wer Velo fährt, sitzt aufrecht oder in leichter Rücklage auf unverwüstlichen, massiven Gestellen mit bis zu zwei belastbaren Gepäckträgern, auf denen Kinder sitzen oder auch mal Erwachsene. Alle fahren Velo, Knirpse ebenso wie ältere Menschen. Man fährt zu zweit oder in Gruppen, palavert, telefoniert oder verpflegt sich während des Radelns.
Die Grundannahmen der Praxistheorie leuchten mir schon eine Weile ein. Sie besagt, dass unser Zusammenleben und unsere kollektiven und individuellen Identitäten durch «soziale Praktiken» bestimmt werden. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie etabliert sind und darum selbstverständlich. Sie müssen nicht erklärt und ausgehandelt werden, sondern werden durch Nachahmung (Mimesis), durch Sozialisation angeeignet und zur Normalität. Weil sie nicht auffallen und nur verhandelt und angepasst werden, wenn sie in Konflikt geraten, wirkt das Konzept zunächst etwas abstrakt. Unmittelbar überzeugend ist es dann, wenn ich mit ganz unvertrauten sozialen Praktiken konfrontiert werde – wie dem Velofahren in Groningen. Sie machen deutlich: Ich bin hier fremd. Hier tickt das Leben anders. Das Verhalten im Alltag ist anders und seine Regeln sind andere. Um jung und hip zu sein, braucht es in Groningen kein Rennrad oder Gravel Bike wie in Bern, wobei ich noch nicht herausgefunden habe, welches hier die velokulturellen Strategien für Coolness sind.
Was bringt mich nun aber dazu, die Velokultur in Groningen samt Praxistheorie in einen Liturgik-Blog zu giessen? Es ist der vielleicht schlicht anmutende Sachverhalt, dass auch Liturgien soziale Praktiken darstellen. Zu deren Begründungsnarrativ gehört bekanntlich der Hinweis auf deren Alter und Beständigkeit, in katholischen und der orthodoxen Kirchen auf deren Sakralität und Ewigkeit. Im krassen Gegensatz dazu steht die Empirie. Liturgische Formen sind in Geschichte und Gegenwart unübersichtlich vielfältig. Liturgie war und ist Teil der jeweiligen Kultur. Liturgien sind soziale Praktiken, und zwar durch und durch. Teil derselben sind auch ihre Begründungsnarrative, die indes noch vielfältiger und wandelbarer sind als liturgischen Handlungen. Liturgische Rituale, Symbole, strukturierte Abläufe und Verhaltensregeln sind historisch bedingt und kulturell geprägt. Sie haben sich ausgebildet und etabliert, bedingt durch vielfältige Faktoren, und verändern sich immerzu. So, wie die Velokultur in Bern oder Groningen.
Die Pointe des Vergleichs zwischen Velofahren und liturgischem Handeln: Liturgisch wird seit je her im Spannungsfeld von Tradition und Situation gehandelt, wobei weder der Traditions- noch der Situationsbezug feststehen, sondern interpretiert werden müssen und strittig sind, liturgische Tradition zudem immer neu sprachfähig gemacht und «erfunden» werden muss. Daraus folgt: Velofahren oder Gottesdienstfeiern geht auch anders. Die Selbstverständlichkeit des Selbstverständlichen ist zwar Teil des liturgischen Spiels. Zugleich verändert sie sich und muss neben sich ganz anders getaktete liturgische Selbstverständlichkeiten ertragen, die deutlich machen: Es geht auch ganz anders!
Prof. Dr. David Plüss, lehrt Homiletik, Liturgik und Kirchentheorie an der Theologischen Fakultät der Universität Bern und Co-Leiter des Kompetenzzentrums Liturgik.