Haltungen angesichts des Krieges

Haltungen angesichts des Krieges

Im Bild, Nr. 1

Francisco de Goya eröffnet seine Radierfolge der «Schrecken des Krieges» mit einem Bild, das Fragen stellt, die auch in der gegenwärtigen Situation aktuell und ganz schön schwierig sind.

Johannes Stückelberger

Francisco de Goya, «Tristes presentimientos de lo que ha de acontecer» («Traurige Vorahnungen dessen, was geschehen wird»), Blatt 1 aus der Folge «Los Desastres de la Guerra» (Die Schrecken des Krieges), 1810–1820, Radierung, 17,5 x 22 cm.


Worte zu finden in der aktuellen Situation, angesichts des Krieges in der Ukraine, ist schwer. Besonders schwer stelle ich mir vor, die richtigen Worte zu finden in Predigt, Gebet und Fürbitte. Jeden Gedanken, den ich formuliere, sehe ich mich genötigt, mit den neu hereinkommenden Meldungen abzugleichen. Hält er ihnen stand? Kann man es so sagen? Ich nehme Zuflucht bei Bildern, hoffe, sie würden zeigen, was ich nicht sagen kann. Doch das Problem verschiebt sich damit nur, vom Wort zum Bild. Ich irre durchs Museum, auf der Suche nach dem Bild, das es auf den Punkt bringt, nach dem Bild, das meine Stimmung aufnimmt und Fragen stellt, wie ich sie weitergeben möchte. In der Ausstellung von Louise Bourgeois im Kunstmuseum Basel sprechen mich ein paar Arbeiten an. Drei Zeichnungen mit blutroten Blumen, darauf die Worte «Glaube,» «Hoffnung», «Liebe». Sie erinnern mich an die Grundlagen meines Glaubens. Ist es das, was mir jetzt hilft? Ein anderes Bild: ein Kopfkissenanzug, darauf eine Rose und der Satz «Delivrez-nous du mal». Warum wählt Louise Bourgeois im Unterschied zum «Unser Vater» die Formulierung «Befreit uns» oder «Befreien Sie uns»? Wer sind die Befreier? Was ist das Böse? Und ein drittes Bild: Die Zeichnung einer rundlichen, in sich geschlossenen Form, dazu der Satz: «It was the controlling of chaos by one of us». Ja, wer vermag Ordnung zu schaffen im gegenwärtigen Chaos? Wer wird wieder zu einem Ganzen formen, was im Moment auseinanderbricht?

Ich eile weiter, laufe das ganze Museum ab und bleibe schliesslich im Graphikkabinett stehen bei einer kleinen Radierung von Francisco de Goya aus seiner Folge der «Desastres de la Guerra», der «Schrecken des Krieges». Das Blatt zeigt drei nackte, an einen Baumstrunk gefesselte männliche Körper, alle tot, der eine verstümmelt, sein Kopf aufgespiesst, die abgehauenen Arme an einem Ast baumelnd. Dazu der Kommentar: «Grosse Taten. Mit Toten!» Es ist eines von 82 Blättern, die der Künstler zwischen 1810 und 1820 geschaffen hat, als Antwort auf Napoleons Invasion in Spanien im Jahr 1808 und dem darauffolgenden mehrjährigen Guerillakrieg. Goya zeigt den Krieg in all seinen Facetten, mit all seinen hässlichen Fratzen, Brutalitäten, Nöten und Leiden: Erschiessungen, Folterungen, Plünderungen, Vergewaltigungen, Flucht. Unglaublich, was Menschen einander antun können. Goya schaut genau hin, geht nah dran, dokumentiert, klagt an, zeigt Verzweiflung und ist verzweifelt. Ein durch und durch empathischer Künstler.

In den heutigen Medien darf man den Krieg nicht mehr so darstellen. Der Respekt vor den Opfern verbietet es, Tote zu zeigen. Aber wir wissen genau und dürfen es nicht ausblenden: In den ausgebrannten Panzern und Militärfahrzeugen, die wir zu sehen bekommen, haben Menschen gesessen, die nun tot sind. Vermutlich ebenfalls tot sind viele der Zivilisten, die in den von Bomben zerstörten Häusern gelebt haben.

Das diesem Blog beigefügte Bild, auf das ich etwas ausführlicher eingehen will, ist das erste Blatt aus Goyas Radierfolge der «Desastres de la Guerra». Es zeigt in Frontalansicht einen knieenden Menschen mit ausgebreiteten Armen, geöffneten Händen, entblösstem Oberkörper und nach oben gerichtetem Blick. Links ist eine Felsenlandschaft angedeutet, der Hintergrund der rechten Bildhälfte ist dunkel. Und unter dem Bild steht dessen Titel: «Tristes presentimientos de lo que ha de acontecer» («Traurige Vorahnungen dessen, was geschehen wird»). Das Bild ist anders angelegt als die übrigen Darstellungen. Es zeigt nicht die Schrecken des Krieges, sondern konfrontiert die Betrachterin, den Betrachter gleich zu Beginn mit der Frage: Und Du? Wie wirst Du Dich zu dem, was Du zu sehen bekommst, verhalten?

Das Bild spricht auf verschiedenen Ebenen zu uns. Zunächst tut es dies durch die Haltung des dargestellten Menschen, wobei diese Haltung verschieden interpretiert werden kann. Der Mann könnte in die Knie gezwungen worden sein, um im nächsten Moment füsiliert zu werden, so, wie es Goya im Bild «Die Erschiessung der Aufständischen am 3. Mai 1808» eindrücklich dargestellt hat. Bittet er um Begnadigung, drückt er mit den geöffneten Armen seine Unschuld aus? Wohl eher ist der Mann von sich aus hingekniet, niedergedrückt von der Schwere des Dunkels um ihn herum. Im Nirgendwo, ganz auf sich allein gestellt, verlassen. Betet er? Bringen seine geöffneten Arme Fragen zum Ausdruck wie: Was geht hier vor? Was passiert mit mir? Wie kann das sein? Wie kannst Du das zulassen? Oder ist es ein Gestus der Demut, ein Gestus des sich in das Schicksal Ergebens? Der Oberkörper des Mannes ist entblösst, das Gewand scheint teilweise zerschlissen. Ist dies ein Zeichen der Reue, bekennt der Mann seine Schuld, bittet er um Vergebung? Und was hat es mit dem Blick nach oben auf sich? An wen oder was wendet er sich? Von wem erhofft er sich Antworten auf sein Leiden und seine Fragen? Warum bleibt sein Mund geschlossen, warum schreit er nicht, fleht er nicht?

Auf einer zweiten Ebene wirkt das Bild durch den starken Kontrast von Hell und Dunkel. Der hell beleuchtete oder fast aus sich heraus leuchtende Mensch ist umgeben von Dunkelheit, keiner totalen Dunkelheit oder Schwärze, aber doch so, dass wir, mit Ausnahme der paar Felsformationen links im Bild, nichts Genaues erkennen können. Die energisch gezeichneten, in verschiedene Richtungen laufenden Schraffuren des Hintergrunds verleihen dem Bild etwas Unruhiges, Chaotisches, und lassen den Menschen im Vordergrund aufgewühlt, unsicher und umgetrieben erscheinen. Das Dunkel belebt unsere Fantasie. Schaut uns da nicht ein Auge an? Lauert dort nicht ein Hund? Ich frage mich: Was geht in meinem Kopf vor? Sehe ich Gespenster? Oder ist das Böse wirklich gegenwärtig?

Eine dritte Bedeutungsebene eröffnet sich durch die Assoziation zu Darstellungen von Jesus im Garten Gethsemane. Goya hat um die gleiche Zeit ein solches Bild gemalt, in dem, wie es zur traditionellen Gethsemane-Ikonographie dazugehört, ein Engel Jesus den Kelch reicht. In der Radierung fehlt ein Gegenüber oder bleibt dieses zumindest unsichtbar. Undurchdringliches Dunkel umgibt den Betenden. Verlassener kann man nicht sein. Mit der Gethsemane-Assoziation bringt Goya das, was er in der Serie zeigt, mit der Passion Jesu in Verbindung. Eine enorme Herausforderung für die Interpretation der schrecklichen Szenen, für den Umgang mit dem Leiden der Menschen im Krieg.

Goyas Bild stellt, angesichts des Krieges in der Ukraine, unzählige Fragen: Was macht dieser Krieg mit den Menschen vor Ort? An wen können sie sich wenden? Woher bekommen sie Hilfe? Was wird noch alles geschehen? Was geht in den umnachteten Köpfen der Aggressoren vor? Ist es erst der Anfang? Wie kann es wieder Licht werden? Was hat Jesus in der Nacht im Garten Gethsemane durchlitten? Warum haben es die Jünger nicht geschafft, mit ihm zu wachen? Mit welchen Ungewissheiten und Vorahnungen müssen die Menschen in der Ukraine leben?

Mir persönlich stellt das Bild von Goya eine sehr konkrete Frage: die Frage nach meiner Haltung im Angesicht des Krieges. Wie verhalte ich mich in dieser Situation? Welche Haltung nehme ich ein? Goyas Bild bietet mir eine Auswahl, wie mir scheint, eine christliche Auswahl: die Haltung des Betenden, des Fragenden, dessen, der verstehen will, der Antworten sucht, des um Vergebung Bittenden, des Demütigen, des Hoffenden. Können diese Haltungen genügen? Vermutlich nicht. Aber es braucht sie auch.


Johannes Stückelberger ist Dozent für Religions- und Kirchenästhetik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern und Titularprofessor für Neuere Kunstgeschichte an der Universität Basel

 

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