Liturgie aus Aktion – Aktion aus Liturgie?

Liturgie aus Aktion – Aktion aus Liturgie?

Am 27. April 2023 jährt sich Dorothee Sölles Todestag zum 20. Mal. Ich nehme dies zum Anlass, die Liturgie eines besonderen gottesdienstlichen Formats in den Blick zu nehmen, das Sölle gemeinsam mit Mitstreiterinnen und Mitstreitern entwickelt hat: das Politische Nachtgebet.

Miriam Löhr

Information – Meditation – Diskussion – Aktion.[1] Diese vier Schritte bilden das Gerüst, welches das Politische Nachtgebet kennzeichnet. So unterschiedlich sie in liturgischer Hinsicht sind, so eng gehören sie konzeptionell zusammen. Sie gipfeln in der Aktion, die gewissermassen zum Prüfstein des Gehörten, Gesungenen und Gebeteten wird: es entsteht «Liturgie aus Aktion»[2]. Ich skizziere zur Veranschaulichung vergleichend drei unterschiedliche Politische Nachtgebete, die in einem Sammelband aus dem Jahr 1971 dokumentiert sind.[3]

Beispiel 1: Vom Gebet zum Arbeitskreis

Das erste Beispiel ist überschrieben: «Camilo Torres – Rebell des Kreuzes»[4], gefeiert am 29. Februar 1970 in der Pfarrkirche St. Vincentius in Dinslaken (D). Es enthält einen detailliert ausgewiesen liturgischen Ablauf. Textinszenierungen sind teils als Sprechtheater gestaltet. Nach einer Begrüssung werden Bilder und Statistiken zu Lateinamerika gezeigt, insbesondere Kolumbien. Einer Lesung von Texten des Priesters Camilo Torres folgt Psalm 9 als «Bitte um Gerechtigkeit» in der Übertragung von Ernesto Cardenal, «übersetzt in die lateinamerikanische Situation von heute»[5]. Dem Beten des Vaterunsers folgt die Einladung zur Diskussion in einem Raum «nebenan». Der dokumentierende Bericht listet nun auf, was im Folgenden geschehen ist: etwa 50 Personen nahmen an der Diskussion teil. Das Verfassen einer Resolution an den Kölner Erzbischof wurde ebenso erwogen wie «die Gründung eines Arbeitskreises zum Thema Entwicklungshilfe»[6]. Ferner werden die weitestgehend positive Beurteilung der Teilnehmenden, neun Presseartikel zum Anlass des Politischen Nachtgebets in unterschiedlichen Zeitschriften sowie die Planung eines weiteren Nachtgebets für das Jahr 1971 erwähnt. Der gegründete Arbeitskreis traf sich im «ersten halben Jahr […] zu einer Reihe von Arbeitssitzungen»[7], die unter anderem zu einer Zusammenarbeit mit der Bischöflichen Aktion Adveniat führte.

Die liturgischen Schritte Information und Meditation sind in diesem Beispiel von der Diskussion und Aktion getrennt. Es erfolgt eine gesonderte Einladung nach dem ersten Teil sowie ein Raumwechsel ins Pfarrzentrum der Kirche. Ist der laut Bericht von leidenschaftlichem Engagement geprägte zweite Teil der Diskussion und Aktion kein liturgisches Feiern mehr? Die Praktiken des Diskutierens, Informierens und des «politischen Handwerks» der Solidaritätsarbeit erscheinen als Gottesdienst in der Welt und enden keineswegs am Abend der Zusammenkunft. Aufschlussreich wäre zu erfahren, ob die Arbeitsgruppe, die sich «im ersten halben Jahr» (!) in die Thematik vertiefte, konzeptionierte, plante und organisierte, diese Arbeit als Gottesdienst verstanden hat. Ich vermute es; die liturgischen Praktiken des Hörens und Betens sind hier eng an Praktiken der politischen Arbeit gebunden, und umgekehrt.

Beispiel 2: Vom Gebet zum Besuchsdienst

Das zweite Beispiel zu «Minderheiten in unserer Gesellschaft» wurde am 10. März 1970 in der Augsburger St. Moritz-Kirche (D) gefeiert. Der Verlauf wird angekündigt wie folgt: «Der Gastarbeiter – Gastarbeiterehefrauen als Amateurdirnen – Der sozial-schwache Mensch – Der alte Mensch – Fürbitten – Aktionsbogen.»[8] Neben den kontrastiv-reflektierenden Informationen zu den vier «Betroffenengruppen», die in der Vorbereitung jeweils vor Ort aufgesucht wurden, fällt das Fürbittgebet auf, das responsorisch nach jeder Bitte den Ruf «Herr, erbarme dich über uns alle!» wiederholt. Ohne weitere Erklärungen folgt ein «Aktionsbogen», in dem Name, Anschrift und Meinung zum erlebten Nachtgebet erfragt werden.[9] Der Aktionsbogen wird seinem Namen gerecht, indem er vorschlägt: «Ich bin bereit zur Mitarbeit an Aktionen für…», und vier Personengruppen mitsamt konkreten Hilfemassnahmen auflistet: Gastarbeiter, Sozial-Schwache, jugendliche Straffällige sowie alte Menschen, die durch Besuchsdienste, Essensangebote, Hausaufgaben- und Sprachhilfe unterstützt werden sollen. Weitere Vorschläge werden erbeten, sodann erfolgt die Nennung einer Kontaktadresse.

Dieses Politische Nachtgebet hält sich nicht lange mit liturgischen Elementen im engeren Sinne auf, sondern wird schnell konkret-diakonisch. Der pragmatisch ausgerichtete Fragebogen verschleiert ein wenig die Bezüge zu Matthäus 25: Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen. Ich war nackt, und ihr habt mich bekleidet. Ich war krank, und ihr habt euch meiner angenommen. Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen. Das bis auf die rituell-sprachliche Gestaltung der Fürbitten wenig spirituell erscheinende Nachtgebet entfaltet seine gottesdienstliche Kraft erst im vierten Schritt, der Aktion.

Beispiel 3: Vom Gebet zur Solidarität

Das dritte Beispiel fand statt am 20. Dezember 1970 in der Pfarrkirche St. Pius in Osnabrück (D). Überschrieben als «Meßfeier» thematisiert es «Soziale Mißstände in Südamerika».[10] Die Liturgie entspricht der römisch-katholischen Messe einschliesslich Kyrie, Lesungen, Predigt, Präfation, Kommunion. Paradigmatisch formuliert das Schlussgebet das Ansinnen der Politischen Nachtgebete: «Wir sind an das Ende dieses Gottesdienstes gekommen, aber die Sache dieses Gottesdienstes geht weiter. Es ist der Auftrag des Herrn, sich nicht zufriedenzugeben mit dieser Welt, sondern an einer neuen Welt zu arbeiten. Das heißt: schon jetzt am Reich Gottes zu arbeiten, uns für Gerechtigkeit und Frieden für alle Völker einzusetzen; daß wir nicht schweigend und untätig die ungerechten Zustände in der Welt hinnehmen, sondern gemeinsam an der Verwirklichung deines Reiches hier auf Erden arbeiten.»[11] Abschliessend werden weitere Andachtstermine, Messfeiern und Wortgottesdienste des Arbeitskreises aufgelistet.

Diese Feier ist im Vergleich zu den ersten beiden Beispielen in einem engeren Sinne liturgisch ausgerichtet und gottesdienstlich gestaltet, ohne jedoch das Anliegen des verändernden Wirkens in der Welt aus dem Blick zu verlieren.

Conclusio

An den drei Beispielen fällt auf: 1. Sie sind stark kontextbezogen und gestalten die Liturgie von den Anforderungen dieses Kontextes her. 2. Sie zeigen eine grosse Bereitschaft zur Selbstkritik, die sich in der Darstellung des Sammelbands selbst wie eine politische Programmatik liest. Entspricht das liturgisch-politische Handeln nicht dem Anliegen – Verbesserung konkreter Lebensumstände, gerechtere Verhältnisse, Frieden – sind die vier Schritte des Nachtgebets zu verändern. Hören, Singen und Beten sind kein reiner Selbstzweck, sondern auf die Veränderung der Welt ausgerichtet. 3. Liturgie erwächst aus Aktion, Aktion gestaltet Liturgie, beides ist nicht voneinander zu trennen. Die Gewichtung variiert, die wechselseitige Verbindung bleibt jedoch konstitutiv. Und: Auch nach 50 Jahren bleibt es anregend, Engagement und Leidenschaft als Grundlagen liturgischen Handelns zu verstehen.

 

Miriam Löhr ist Postdoc am Institut für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät Bern.

 

 

 

 

 

 

 

[1] Politisches Nachtgebet in Köln Band 2 (o. J.). Texte – Analysen – Kritik. Im Auftrag des ökumenischen Arbeitskreises «Politisches Nachtgebet». Hg. Dorothee Sölle/Fulbert Steffensky. Stuttgart, 224 (Abschnitt «Liturgie aus Aktion», Klaus Schmidt).

[2] Vgl. ebd.

[3] Aktion Politisches Nachtgebet. Hg. Uwe Seidel/Diethard Zils. Wuppertal/Düsseldorf 1971.

[4] Ebd., 109.

[5] Ebd., 125.

[6] Ebd., 127.

[7] Ebd., 128.

[8] Ebd., 31.

[9] Ebd., 46.

[10] Ebd., 223.

[11] Ebd., 232.

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