«Entgegenkommendes» liturgisches Sprechen

«Entgegenkommendes» liturgisches Sprechen

Sprache im Gottesdienst ist nicht Text, sondern Bewegung und Handlung. Was alles damit zusammenhängt, wird in diesem Blog-Beitrag ausgelotet, ausgehend und mit Bezug auf Ralph Kunz› Plädoyer für eine «entgegenkommende Sprache».

David Plüss

Ralph Kunz plädiert in seinem Blog-Beitrag über «Leichte Sprache» für ein Gegenüber-Modell statt eines Stufenmodells der leichten Sprache. Die Rede von Sprachniveaus, die zu senken seien, um für Menschen mit einer Beeinträchtigung verständlich zu sein, hält er für gefährlich. Sie tendiere zu einer herablassenden und infantilisierenden Sprache. Verständliche Sprache müsse entgegenkommende Sprache auf Augenhöhe sein.

Mir leuchten Einwand und Vorschlag ein: Verständlich ist Sprache dann, wenn sie den Zuhörenden entgegenkommt, wenn sie auf sie zukommt, wenn sie sich ereignet. Ich greife den Gedanken auf, beziehe ihn auf den Gottesdienst und führe ihn noch etwas weiter. Dabei fokussiere ich auf die gesprochene und nicht auf die geschriebene Sprache. Um die entgegenkommende Bewegung der Sprache hörbar und erkennbar zu machen, könnte, wenn immer möglich und sachlich angemessen, vom Sprechen statt von der Sprache gesprochen werden. Sprache kommt im Sprechen in Bewegung, wird freigelassen, greift Raum und nimmt sich Zeit, wird von den einen in Bruchstücken aufgeschnappt und von anderen aufmerksam gehört. Ich werde darum im Folgenden vom entgegenkommenden Sprechen sprechen und Ralph Kunz› Vorschlag performativ erkunden.

Grundsätzlich gilt: Verständliches Sprechen ist keine Geistesgabe, sondern Handwerk. Verständlich sprechen – in der Predigt, beim Beten, beim Moderieren oder Unterrichten – kann gelernt werden. Rhetorik heisst die Disziplin, die sich damit befasst Und sie hat bereits ein stolzes Alter: rund 2500 Jahre. Es ist eine Theorie und eine Technik, eine Praxis, eben: ein Handwerk. Oder genauer: Ein Mundwerk. Das ist mehr als ein Kalauer. Sprechen ist handeln. Wer dies verstanden hat, dem leuchten die zentralen Regeln der «Leichten Sprache» unmittelbar ein: Kurze Sätze! Verben statt Nomen! Konkret statt abstrakt! Darüber hinaus: Dynamik und Pointen! Verständliches, entgegenkommendes Sprechen hat viel mit der Eigenart der verwendeten Sprache zu tun. Was ich sage, wird greifbarer, anregender und aufregender, wenn meine Sprache konkret ist, wenn etwas geschieht, wenn das, was ich sage, in den Köpfen der Zuhörenden gleichzeitig aufscheint, im Bauch gefühlt wird, im Herzen resoniert: «Brannte nicht unser Herz, als er mit uns redete?» (Lk 24,32). Kurzum: Verständlich Sprechen im Gottesdienst hat viel mit meiner Sprache zu tun, sei sie als Text in einem Manuskript fixiert oder nicht. Aber: Es hat nicht nur mit der verwendeten Sprache zu tun, sondern auch und in besonderer Weise mit meinem Sprechen: mit der Weise, wie ich betone, mein Sprechen rhythmisiere, Pausen setze und artikuliere; aber auch mit meiner Stimme, mit meiner Mimik und Gestik, mit meinem Stehen und mich Bewegen, mit meinem Kontakt zu den Hörenden.

Verständliches, entgegenkommendes Sprechen ist ein Handeln in der Zeit. Es erfolgt mit Drive oder langsam, dynamisch oder feierlich. Wer spricht, strukturiert die Zeit. Sprechen und kurze oder längere Pausen zwischen Worten, Satzteilen und Sätzen wechseln sich ab. Damit Sinn entsteht, damit in den Köpfen der Zuhörenden Argumente gehört werden und Bilder Kontur und Farbe erhalten, damit Emotionen überspringen und Resonanz erzeugen können, braucht es Zeit. Ausreichend Zeit. Meist mehr, als sich die Sprechende nimmt, wenn sie ein Gebet spricht oder einen gehaltvollen Bibeltext vorträgt. Sie kommt den Zuhörenden dann entgegen, wenn sie sie nicht nur als Zuhörende, sondern als Teilnehmende begreift, die mitbeten, über einzelne Motive und Bilder des gelesenen Bibeltextes meditieren, der Predigt nachsinnen und die vorgetragenen Argumente weiterspinnen. Dies gelingt der Sprechenden dann am besten, wenn sie die Zeit des Sprechens so gestaltet und rhythmisiert, dass sie das, was sie spricht, selbst – neu! – denkt, sieht, fühlt, erlebt. Wenn ihr dies gelingt, dann ist die Dynamik und Rhythmisierung des Sprechens keine Technik auf der Textebene, sondern des Sprechens und der Gegenwärtigkeit in der Situation.

Die Sprechsituationen sind sehr unterschiedlich. Entgegenkommendes Sprechen ist ein situatives Handeln und damit ein Handeln im Raum. Sprechen ist ein räumliches Geschehen. Wer spricht, greift Raum. Wer entgegenkommend spricht, hat die Adressierten oder Mitbetenden im Blick, auch wenn er sie nicht anblickt. Er spricht diskret und zugleich engagiert. Er ist stimmlich präsent, ohne die Zuhörenden zu bedrängen. Und er achtet auf den Raum, auf dessen Dimensionen, akustische Eigenart und Resonanz.

Entgegenkommendes Sprechen ist darüber hinaus stimmhaft. Die Stimme einer Sprecherin ist wie ihr Fingerabdruck. Sie bringt ihre Persönlichkeit zum Ausdruck. Zudem ihre aktuelle Stimmung und Einstellung zu dem, was sie sagt. Die Stimme verrät vieles, ohne dass dies der Sprecherin und den Zuhörenden bewusst wird. Stress überträgt sich stimmlich unmittelbar. Unsicherheit ebenso. Aber auch Vertrauen und Hoffnung erhalten stimmliche Resonanzräume. Diesen Sachverhalt müssen Sprechende zunächst zur Kenntnis nehmen, ohne ihn sprecherisch direkt beeinflussen zu können. Indes gilt auch hier: Wer selbst betet, wenn er:sie vor und für eine Gemeinde ein Gebet spricht, bringt dies auch stimmlich so zum Ausdruck, dass die Zuhörenden Raum zum Mitbeten erhalten.

Hinzu kommen Körperhaltung, Gestik und Mimik des Sprechenden. Entgegenkommendes Sprechen wird in der Predigt durch einen zugewandten Blick, eine lebendige Mimik und unterstützende Gestik verkörpert. Aber auch wer betete oder einen Bibeltext liest, tut dies einladender und anregender, wenn er oder sie mit dem ganzen Körper betet oder liest.

Das theologische ceterum censeo zum Schluss: Auch wer entgegenkommend spricht, alle performativen Register zieht und alle genannten Elemente berücksichtigt, verfügt nicht darüber, ob und in welcher Weise der Funke springt, die Angesprochenen getröstet werden, Hoffnung schöpfen und Freiheit gewinnen, ob der Himmel über ihnen aufreisst und das Licht der Verheissung über ihrem Leben aufscheint. Wer engagiert und entgegenkommend spricht, verfügt nicht darüber, aber spannt einen Möglichkeitsraum auf, in dem sich ereignen kann, was er:sie anspricht.

Prof. Dr. David Plüss, lehrt Homiletik, Liturgik und Kirchentheorie an der Theologischen Fakultät der Universität Bern und Co-Leiter des Kompetenzzentrums Liturgik.

 

 

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